Auch wenn ihr thematisch schon wieder ein wenig weiter seid: Da der gute AL ja hier im Thread in den letzten Tagen mit seiner Zentralbankkritik doch stark Gegenwind erfahren hat, möchte ich hier mal eine paar Fakten (in Anlehnung an Klimafakten) aufzählen, die AL mit seiner Hypothese (der Enteignung und der Zerstörung der Altersvorsorge) durchaus rechtgeben könnten.
Fakt ist: Niedrige Leitzinsen führen zu höheren Immobilienpreisen. Dieser Zusammenhang ist gemeinhin unter Wirtschaftswissenschaftlern anerkannt (auch wenn es ein paar Zweifler gibt, die gibt es immer)
Fakt ist: Viele Selbstständige, beispielsweise Handwerker, (und auch Arbeitnehmer, die zusätzlich vorsorgen wollen) haben (zumindest in Deutschland traditionell) Immobilien und Sparzinsen genutzt, um für ihr Alter vorzusorgen. Die Anlage in Aktien wurde von den meisten zur Altervorsorge als riskant angesehen, denn gerade im Alter kann man einen längeren Bärenmarkt nicht einfach aussitzen.
Fakt ist: Durch die gestiegenen Immobilienpreise ist es für Leute, die jetzt anfangen vorzusorgen, erheblich schwieriger dies mit Immobilien zu tun, da ein höheres Eigenkapital von nöten ist. So muss länger gemietet und gespart werden, außerdem fällt die implizite (steuerfreie) Verzinsung, die durch den Wegfall von Mietzahlungen entsteht, für den Zeitraum bis man das nötige Eigenkapital hat weg.
Fakt ist: Die Sparzinsen lagen die meiste Zeit effektiv knapp unter der Inflation, d.h. muss man ehrlicherweise anerkennen, dass es bei dieser Art der Vorsorge historisch trotzdem zu einem leichten effektiven Wertverlust kam.
Fakt ist: Zum aktuellen Zeitpunkt liegt die Verzinsung auf Konten bei quasi 0%, mit Gebühren im negativen Bereich (die Gebühren sind prozentual gesehen natürlich höher, wenn wenig Geld auf dem Konto liegt, d.h. für die ganz unteren Einkommensschichten, die eigentlich keine Ersparnisse haben). Die offizielle Inflation zwischen 1 und 2%. Damit liegt bereits der offizielle effektive Wertverlust auf Sparguthaben bei 1-2%
Fakt ist: Die offizielle Inflation dürfte unter der eigentlichen Inflation liegen, weil zur Berechnung des Warenkorbes 1. die hedonische Bewertungsmethode verwendet wird, die Qualitätssteigerungen von Produkten mit ihren Preisanstiegen verrechnet und 2. der Warenkorb nach dem Konsumverhalten angepasst wird. Das bedeutet, dass, wenn die Konsumenten wegen Preisanstiegen auf günstigere Produkte ausweichen, der Preisanstieg des Produktes, das teurer geworden ist, weniger stark in die Rechnung einfließt, weil es ja weniger konsumiert wird.
Fakt ist: Damit dürfte der effektive Wertverlust auf Sparguthaben ein gutes Stück über 2% liegen.
Fakt ist: In Deutschland wurde die Berechnung mit der hedonischen Bewertungsmethode zusammen mit dem Euro eingeführt.
Fakt ist: In Deutschland (und bspw. den Niederlanden) gibt es ein anderes Vorsorgeverhalten als in Südeuropa, in denen (da sie eine Weichwährung gewohnt sind) eher in Sachwerten (Immobilien und Gold) und Dollar gespart wird. [Anmerkung von mir: Es ist wohl unrealistisch, da in der Kultur mehr oder weniger verankert, die Deutschen in ein paar Jahren umerziehen zu wollen].
[Zwischenstand: Privates Vorsorgen ist in den letzten Jahren tatsächlich erschwert worden, bzw. wird vor allem für die erschwert, die jetzt anfangen vorzusorgen, d.h. alle die jetzt im Alter zwischen 22-35 sind und in den Beruf eintreten. Wer bereits eine Immobilie oder Aktien im Depot hatte, hat profitieren können. Die Wohnungseigentümerquote ist in Deutschland allerdings geringer als in anderen europäischen Ländern und die Aktionärsquote liegt auch nur bei rund 16% (Stand 2017, und alle die zuletzt eingestiegen sind, könnten meiner Meinung nach böse auf die Nase fallen). Damit dürften große Teile der Bevölkerung eher zu den Gelackmeierten gehören.]
Weiter im Bilde:
Fakt ist: Man könnte ja auch Riestern. Defacto ist es jedoch so, dass der Garantiezins 2012 von 2.25% (0.25% über der schöngerechneten offiziellen Inflation) auf 1.75% gesenkt wurde. Nach offiziellen Inflationszahlungen lag man damit knapp über der Inflation. Wenn man die offizielle Inflation aus den oben genannten Gründen in Zweifel zieht, dürfte es schlechter aussehen.
Fakt ist: Durch die hedonische Methode wird die Inflation kleiner gerechnet, was bedeutet, dass das GDP, das häufig inflationsbereinigt als Real GDP angegeben wird, und damit das Wirtschaftswachstum dadurch größer erscheint.
Fakt ist: Durch eine offiziell kleiner gerechnete Inflation (ob das nun so ist oder nicht), hätte die Zentralbank, deren offizielles Mandat die Bewahrung der Preisstabilität ist, mehr Spielraum die Zinsen nach unten anzupassen, um die Wirtschaft zu stimulieren.
Fakt ist: Renten- und andere Versicherungen und auch viele andere Institutionen, beispielsweise Unternehmen, die Betriebsrenten zahlen wollen, dürfen ihr Geld häufig nur in sichere Anlageklassen anlegen, d.h. Bonds von Staaten und Unternehmen mit guter Bonität.
Fakt ist: Durch Anleihenaufkaufprogramme von Notenbanken werden die Renditen solcher Anleihen künstlich gedrückt.
Fakt ist: Die Rendite, die damit in vielen Rentenplänen fest einkalkuliert war, wird dadurch gemindert. [Anmerkung: Und ob den jeweiligen Rentenverpflichtungen in der Zukunft unter diesen Umständen nachgekommen werden kann, darf bezweifelt werden]
Fakt ist: Der 0-Zins bzw. Strafzins für Banken hat den Banken ein wichtiges Geschäftsfeld, die Zinsarbitrage, geklaut. Diese Gewinne müssen anderweitig gemacht werden, was im Grunde nur durch das eingehen zusätzlicher Risiken möglich ist. Nach der Finanzkrise sollte dieses Zocken jedoch unterbunden werden, weshalb die europäischen Banken darben und in Deutschland Stellenabbau und das schließen von Filialen voranschreitet.
Fakt ist: Die Dispozinsen haben etwa im gleichen Maß nachgegeben wie die Leitzinsen. Da diese jedoch auf einem wesentlich höheren Niveau sind und Zinsen multiplikativ wirken, durften die Nutzer der Dispozinsen (eher Menschen mit wenig Geld) prozentual weniger einen Nutzen von den niedrigen Zinsen haben als Schuldner mit "richtigen" Krediten. (Einfach ausgedrückt: Eine Zinssenkung von 3% ist bei 6% eine Halbierung, bei 12% eine Senkung um ein Viertel)
Fakt ist: Kredit bietet einen finanziellen Hebel. Wer früh mit Hebel investieren konnte, hat mehr von den niedrigen Zinsen profitieren können. Das bedeutet auch, dass diejenigen, die sowieso schon viel hatten, stärker und länger von den Zinssenkungen profitieren konnten. [Anmerkung: Aus diesem Grunde hat sich die Vermögensschere seit Anfang der 80er so ausgeweitet.]
Mein Fazit (nicht unbedingt Fakt): Die niedrigen Zinsen wirken negativ auf Banken (außer Investment- und Zockerbanken), Versicherungen und Betriebsrenten. Die stetig sinkenden Zinsen haben außerdem zur Ausweitung der Vermögensschere beigetragen, indem vor allem Menschen mit Eigenkapital von Krediten und Investments im Aufschwung seit den 80ern profitieren konnten. Die Frage ist: Warum sind die Zinsen so gering? Weil die Inflation so gering ist, sind die Zentralbanken nicht gezwungen, den Zins nach oben anzupassen. Dennoch scheint die Inflation höher zu sein als offiziell angegeben (s. oben), wenn nun also das Mandat der Preisstabilität ernster genommen werden würde, müsste es bereits höhere Zinsen geben. Aber es ist richtig, dass die Inflation auch nicht gerade davongallopiert [Anmerkung: Bislang.]. Hier wird gerne als Argument angeführt, der deutsche Sparer würde zu viel sparen. De facto ist es aber so, dass jeder dritte Deutsche am Monatsende kein Geld zurücklegen kann, praktisch jedoch darauf angewiesen wäre, um für das Alter vorzusorgen. Das Argument, die Leute würden halt einfach zu viel sparen, greift also zu kurz. Man könnte jedoch bemängeln, dass diejenigen, die viel Vermögen besitzen zu wenig investieren und auf zu viel Barreserven sitzen. Das dürfte sicher stimmen, dürfte aber nicht den durchschnittlichen EZB-"Nörgler" meinen (vielleicht die wohlhabenderen unter ihnen), sondern einige wenige Unternehmen und reiche "Dynastien", die von dem Zinssenkungszyklus der letzten knapp 40 Jahre voll profitieren konnten. In dieser Hinsicht kann man AL also durchaus recht geben, auch wenn die "Enteignung" keine absolute Enteignung ist (niemand hat am Ende weniger Geld), sondern eine relative (manche haben am Ende mehr Geld, die anderen stehen dumm da). Der Clou (meiner Meinung nach) dabei ist, dass effektiv Stück für Stück dem normalen Konsumkreislauf das Geld entzogen wurde, obwohl es immer mehr Geld gab, nur landete es in den Taschen der Profiteure, die so viel Geld gar nicht verkonsumieren konnten. Dadurch dass dem Konsumkreislauf Geld entzogen wurde, verstärkte sich der deflationäre Grundtrend und die Zinsen sanken weiter. Bis zum Wirtschaftskollapps (ebenfalls Hypothese von mir). Zuletzt muss man auch noch sagen, dass das vielbeschworene Sparvermögen, das die Deutschen bunkern, den Banken ja auch als Eigenkapital für ihre eigenen Investitionen dienen sollte. Das "Problem" ist also weniger das Sparvermögen der Deutschen, sondern dass die Banken nach 2008 nicht gewillt sind (und wegen diverser Regularien auch nicht mehr fähig), kopflos riskante Kredite zu vergeben und zocken dürfen sie damit auch nicht. Da die Zinsarbitrage auch wegfällt, womit man sonst ja stets Extrageld verdienen konnte, wissen die Banken also nichts mit dem Geld anzufangen. Die Bank will das ganze Sparguthaben also eigentlich nicht investieren, eigentlich nicht einmal haben und deshalb gibt es keine Zinsen auf dem Tagesgeldkonto. Wäre auch kein Problem, wenn es da nicht die Differenz zur Inflation geben würde, die die Sparvermögen dann abwertet. Also ja, es gibt kein Recht auf Zinsen, es gibt aber es gibt das Mandat der Preisstabilität der Notenbanken.
P.S.: Die Ablehnung, die AL den einzelnen Akteuren der EZB entgegenbringt, ist meiner Meinung nach unangebracht, weil es sich erstens dabei insgesamt eher um ein globales Phänomen des Kapitalismus handelt und zweitens die Akteure austauschbar sind, andere hätten vermutlich ähnlich gehandelt. Trotzdem habe ich Verständnis dafür, an Einzelpersonen kann man sich einfacher schöner aufreiben.
P.P.S.: Da das hier ein Börsenforum ist, gehe ich davon aus, dass die meisten (wahrscheinlich nahezu alle), die das hier lesen prinzipiell zu den Profiteuren dieser Entwicklung gehören. Das schließt AL mit ein, um so ehrenwerter finde ich, dass er diese Zustände anprangert. Diejenigen, die von dieser Entwicklung am meisten betroffen sind (untere Mittelschicht), werden diese Zusammenhänge wahrscheinlich gar nicht kennen, viele sicher auch nicht verstehen. |