t-online: Herr Keupp, Sie beschäftigen sich als Militärökonom mit der Stärke der russischen Armee, die sich im Ukraine-Krieg eher als schwach herausgestellt hat. Wie konnte der Westen Russland derart lange Zeit überschätzen? Marcus Keupp: Wenn man nur lange genug an der Fassade kratzt, stellt sich Russland oft als Potemkinsches Dorf heraus. Um dies zu erkennen, muss man Moskau und Sankt Petersburg freilich verlassen und sich den Rest des Landes ansehen. In einer Hinsicht ist Russland allerdings überaus leistungsfähig – und zwar in der Propaganda von seiner angeblichen Stärke. Gerade in Deutschland verschätzte man sich in Sachen Russland in vielerlei Hinsicht. Putins Märchen wurden in Deutschland gerne geglaubt. Pensionierte Offiziere saßen in Talkshows und erzählten, wie unendlich die russischen Reserven angeblich seien. Was ist aber tatsächlich geschehen? Mittlerweile schaffen die Russen angesichts ihrer Verluste nun Panzer an die Front, die aus Zeiten des Korea-Krieges stammen. Die russischen Soldaten müssen dann mit Museumsstücken kämpfen.
Deutschland und andere Staaten des Westens haben es bei der Unterstützung der Ukraine bislang bei der Formel "so lange wie nötig" belassen. Sollte die Bundesregierung aber nicht vielmehr alles dafür tun, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird?
Großbritannien, Polen und etwa auch die baltischen Staaten wollen, dass die Ukraine siegt. Deutschland und Frankreich sind hingegen dafür, dass die Ukraine zumindest nicht verliert, die USA befinden sich derzeit irgendwo dazwischen. So ist die derzeitige Lage. Eigentlich ist aber kein anderes Ziel als der Sieg der Ukraine empfehlenswert. Denn wenn Russland Teile der besetzten ukrainischen Gebiete behalten darf, würde dies nicht nur den Aggressor belohnen. Man würde vielmehr den nächsten Krieg heraufbeschwören. Weil ein revanchistisches Russland so oder so den nächsten Waffengang plant? So ist es. Nehmen wir den Fall, dass Russland bei einem Friedensschluss die Krim als militärische Festung behalten darf. Zehn bis 15 Jahre lang würde Moskau erneut aufrüsten, dann geht alles wieder von vorne los. Nein, das Kriegsziel der Ukraine ist nicht nur legitim, sondern auch vernünftig – und zwar das Land in seinen Grenzen von 1991 wiederherzustellen. Wozu ohne jeden Zweifel die Krim gehört. Nun werden immer wieder Warnungen laut, dass der Verlust der Halbinsel für Putin eine "rote Linie" wäre. Es gibt im westlichen Politikbetrieb immer noch zu viel Defätismus. Russland redet ständig von roten Linien, welche Drohungen wurden bislang aber Realität? Keine. Man könne Russland nicht besiegen, Putin lässt sich nicht an den Verhandlungstisch zwingen, heißt es immer wieder im Westen. Man kann Putin aber sehr wohl besiegen – wenn man sich nicht mehr von ihm täuschen lässt. Und erkennt, was Russland zurzeit wirklich ist: ein brutales Imperium, das auf Expansion aus ist. Das zumindest sollte mittlerweile jeder begriffen haben.
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