Die Justizreform stürzt Israel in die größte Zerreißprobe seit Staatsgründung, sagt der Historiker Meron Mendel. Im Interview erklärt er, wer die Reform unterstützt - und warum der Weg in einen illiberalen Staat unumkehrbar sein könnte. tagesschau.de: Was wird die jetzt beschlossene Gesetzesänderung - auch im Zusammenhang mit den anderen Teilen der Justizreform - ändern, was wird in Zukunft anders laufen? Meron Mendel: Es geht um die Streichung der sogenannten Angemessenheitsklausel aus dem Gesetzbuch. Diese Klausel ermöglichte dem Obersten Gericht, Regierungsentscheide zu kippen, wenn sie unangemessen sind. In der Vergangenheit wurde sie angewendet, wenn zum Beispiel Frauen oder Minderheiten benachteiligt wurden, oder wenn Menschen mit Nähe zur Regierung ohne relevante Qualifikationen höhere Posten bekamen.
Wenn die Streichung - die übrigens noch vor dem Obersten Gericht Bestand haben muss - so in Kraft tritt, gibt es eine Art Freifahrtschein für Korruption in Israel. Die Gefahr der Korruption ist sehr real: Nicht umsonst steht der heutige Premier Benjamin Netanyahu wegen vier schwerwiegenden Korruptionsvorwürfen seit drei Jahren vor Gericht. Seine Regierung will jegliche Standards von Rechtsstaatlichkeit und Transparenz abschaffen, damit sie sich selbst und ihre politisch Verbündeten ungehindert aus der Staatskasse bedienen können.
tagesschau.de: Es ist also eine Entscheidung, die das politische System in Israel nachhaltig verändern kann? Mendel: Eindeutig ja. Das hat sowohl eine reale Wirkung als auch eine Signalwirkung. Die reale Wirkung ist, dass es de facto in Fragen der Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und Korruption keine effektive Kontrolle mehr über die Regierungshandlungen gibt. Israel hat keine Verfassung und kein föderales System. Die einzige Hürde für die unbegrenzte Macht einer Regierung ist die unabhängige und handlungsfähige Justiz. Und die Angemessenheitsklausel ist vielleicht das wichtigste Instrument der Justiz, um die Regierung zu kontrollieren und darauf zu achten, dass sie ihre Macht nicht missbraucht. Das ist auch der Grund, warum die Regierung so viel aufs Spiel setzt, um diese Gesetze über die Bühne zu bekommen. Das ist auch die Signalwirkung: Egal wie stark der Protest der Zivilgesellschaft ist - die Regierung setzt ihre Pläne durch, und alle die dagegen sind, werden aus dem Weg geräumt. tagesschau.de: Steht damit das politische System insgesamt auf dem Spiel? Mendel: Wir erleben ein Systemwechsel, weil die Justizreform in ihrer Gesamtheit - heute haben wir ja nur einen Schritt erlebt - einen Staatsstreich von oben darstellt. Das Gesamtvorhaben bedeutet, dass Israel aufhören wird, eine liberale Demokratie zu sein. Israel wird dann eine illiberale Demokratie nach dem Vorbild von Ungarn, Polen oder der Türkei. Die Teile der israelischen Gesellschaft, die für eine offene und gleichberechtigte Gesellschaft stehen, merken, dass alles, was in den vergangenen 75 Jahren aufgebaut wurde, über Bord geworfen wird. ...
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