Freitag-Reporter Karl Kaleyta nahm am ersten offiziellen Treffen der "Aufstehen"-Bewegung in Dortmund teil.
https://www.freitag.de/autoren/tkkaleyta/ey-leute-forget-it
...Bei den französischen Nachbarn brauchte es für die Artikulierung von Missstand nicht die Gründung eines recht undurchsichtig organisierten „eingetragenen Trägervereins“, sondern dort zog man sich eine [gelbe] Warnweste an und ging mit der entsprechenden Wucht auf die Straße. Das Einzige, was man über „Aufstehen“ zuletzt mitbekam, waren die immer verbissener geführten Streitereien der Unterstützer, die fragten, wie es nun weitergehen und wie man sich denn organisieren und das System zum Umstürzen bringen würde... Selbst der friedliebende Gregor Gysi erklärte die Bewegung öffentlich für „politisch tot“...
[Zum Treffen in Dortmund kamen] zum ersten Mal Vertreter und Gesandte der Basisgruppen aus dem ganzen Bundesgebiet. Nicht nur sollten sich jetzt, ein halbes Jahr nach Gründung, die Menschen tatsächlich mal kennenlernen, auch hatte man die Notwendigkeit erkannt, als Bewegung aktiv zu werden...
Eingeladen zur Mittagszeit hatten Bülow und seine Mitstreiter in das etwas seltsam, aber einladend klingende BierCaféWest, einen groben, unprätentiösen Versammlungsort im Hinterhof einer Arbeiterwohlfahrt-Zentrale am Rande der Dortmunder Innenstadt.... Nicht zuletzt [die] unausgesprochene Barrierefreiheit des BierCaféWest hatte dafür gesorgt, dass tatsächlich viele Vertreter der Basisgruppen gekommen waren – es war laut und voll, mit Filzstift auf Kreppband hatten sich die Teilnehmer ihre Vornamen auf die Kleidung geklebt, um auch die Hürden des Kennenlernens niedrig zu halten....
Auf einem Informationszettel [aufgelistet standen die] ... gröbsten Fehler, die vor allem auf Versäumnisse seitens des Trägervereins verwiesen... Viel ist da die Rede von Missgeschicken, unangekündigten Gruppen-Schließungen bei Facebook, nicht herausgegebenen E-Mail-Adressen, vergessenen Mailings, ausbleibenden Mobilisierungen, verschlampten Homepage-Aktualisierungen. Das Problem besteht anscheinend in der Trägheit des Trägervereins.
Um dieser Trägheit etwas entgegenzusetzen, um der Bewegung neuen, vor allem basisdemokratischen Schwung mitzugeben, waren sie also gekommen,... jeder für sich unübersehbar hochmotiviert und von dem Willen getrieben, dem Unmut Luft zu machen, gleichsam hier und jetzt endlich mit irgendwas anzufangen.
Warum man so ein Treffen indes „Campus“ nennen muss, bleibt fraglich – die allermeisten Teilnehmer hier haben ja eher nie eine Universität besucht und dürften, was zu begrüßen ist, auch kein Studium der Geisteswissenschaften abgeschlossen haben. Dafür aber ist hier, anders als in jedem Germanistik-Proseminar, eine grenzenlose Mitmachbereitschaft zu bestaunen, ein Engagement, eine Leidenschaft und eine Lust zur aktiven Teilnahme, die nur vital und wahrhaftig zu nennen ist.
...Angst, öffentlich frei zu sprechen, hatte hier niemand. Jochen, um die 60 und mit schräg auf dem Haupt sitzender BVB-Mütze, stand auf und wandte sich ans Publikum – „Aufstehen“ müsse uns Menschen zu Wort kommen und entscheiden lassen, er sagte: „Die Rätedemokratie ist 1919 nur daran gescheitert, dass es noch kein Internet gab.“ Und dann lachten alle über diese gelungene Pointe, und für einen Moment konnte man tatsächlich die Schönheit dessen ahnen, wie es sich einmal angefühlt haben muss, Revolution zu machen.
Doch leider ahnte man auch, woran linke Bewegungen immer wieder so unerbittlich scheitern – meist nämlich und immer wieder überraschend neu an sich selbst. ... Zusätzlich verkompliziert wird alles durch undurchsichtige Strukturen, Machtspielchen, wechselnde und unklare Zuständigkeiten sowie durch die Tatsache, dass hier im echten Klassenkampf keine Organisationsprofis und Netzwerker am Ruder sind, sondern Menschen, die beim Versuch, die Dinge zum Besseren zu wenden, immer wieder an eigene Grenzen stoßen. Es fehlt ihnen keinesfalls an Mut und Motivation, nur scheinen sie alle sich so aufzureiben in Fragen der Selbstorganisation, dass sich diejenigen, die etwas von ihnen zu befürchten hätten, vermutlich die Hände reiben, dass der Aufstand gegen sie so verlässlich scheitert. Vermutlich liegt hier auch die Resilienz des Systems begründet – diese Menschen sind keine Netzwerker, ihnen bleibt nur der Mut der Aussichtslosigkeit. Und dieser ist leicht zu brechen. Es reicht schon, einfach nur abzuwarten. |