Sehr genau beobachtet die SPD die Versuche ihres früheren Vorsitzenden Oskar Lafontaine, in die Politik zurückzukehren. Lafontaine attackiert die Sozialdemokratie scharf, ist aber noch nicht aus der Partei ausgetreten.
Die deutsche Sozialdemokratie versucht sich in der Kunst, den Auftritt ihres früheren Vorsitzenden Lafontaine an der Leipziger Montagsdemonstration mit ostentativer Nichtbeachtung zu strafen, während sie zugleich doch jeden Schritt des Saarländers mit Argusaugen beobachtet. Führende Sozialdemokraten äusserten sich am Dienstag nicht zu Lafontaines Brandreden gegen die Arbeitsmarktreformen der Regierung. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Müller, nannte Lafontaines Äusserungen populistisch, während der niedersächsische SPD-Vorsitzende Jüttner meinte, man solle den Auftritt ignorieren. Diesen Ratschlag zu beherzigen, fällt allerdings der SPD selbst am schwersten.
Schröder als Zielscheibe Natürlich verfolgte die Partei sehr genau, wie Lafontaine am Montagabend vor angeblich 25 000 Kundgebungsteilnehmern das Reformprogramm «Agenda 2010» in Bausch und Bogen verwarf. Er hielt Bundeskanzler Schröder Wahlbetrug vor und verlangte, die bereits vollzogenen oder noch geplanten Kürzungen von Sozialleistungen rückgängig zu machen. Mehrfach griff Lafontaine in Leipzig, dem Ort der ersten Massendemonstrationen gegen das SED-Regime im Herbst 1989, die aus jener Zeit stammende Parole «Wir sind das Volk» auf. Er erklärte, «wir, das Volk, wollen diesen Sozialstaat, weil er uns ein menschenwürdiges Leben ermöglicht». Ferner sagte er, es gebe in Deutschland keine Trennung zwischen Ost und West, sondern zwischen Arm und Reich. Im Jahr der Wiedervereinigung hatte Lafontaine als Kanzlerkandidat noch den Ost- West-Gegensatz betont und den Beitritt der DDR vor allem als Kostenfaktor dargestellt. Lafontaines Auftritt fand in Leipzig ein zwiespältiges Echo; einige Repräsentanten der früheren Bürgerbewegung sprachen sich gegen die Teilnahme des Politikers an der Demonstration aus.
Die Reise nach Sachsen ist Lafontaines dezidiertester Versuch, ins Rampenlicht zurückzukehren, das er im Frühjahr 1999 mit dem Rücktritt von allen Ämtern fluchtartig verlassen hatte. Damals hatte der SPD-Vorsitzende und Finanzminister begriffen, dass sein Kalkül gescheitert war, Schröder werde unter ihm Kanzler sein. Schröder emanzipierte sich hingegen nach der gewonnenen Wahl recht schnell und begann, den Finanzminister ins politische Abseits zu drängen. An dieser narzisstischen Kränkung laboriert Lafontaine bis heute, und jedes seiner Worte ist getränkt vom Ressentiment gegen Schröder. Gegenüber Parteifreunden, die in diesen Tagen Lafontaine anrufen, um ihm ins Gewissen zu reden, stellt er die wirklichkeitsfremde Forderung auf, der Kanzler müsse zurücktreten. Schröders Sturz scheint inzwischen zu Lafontaines eigentlichem politischem Programm geworden zu sein, und sein Protest gegen die «Hartz IV»-Reform ist nur ein Mittel zum Zweck.
Abwartende Haltung der PDS Bisher hat Lafontaine allerdings den letzten, konsequenten Schritt gescheut, aus der Partei auszutreten, die an Schröder als Kanzler festhält. Er kokettiert zwar mit der Idee, sich der unter dem vorläufigen Namen «Wahlalternative» entstehenden Linkspartei anzuschliessen, und hält sich alle Optionen offen. Den offenen Bruch mit der SPD vermeidet er, wohl wissend, dass ihm seine augenblickliche Rolle als sozialpolitische Nemesis einer zur Reformpartei gewandelten Sozialdemokratie viel Medienaufmerksamkeit beschert. Ausserdem ist noch ungewiss, ob sich die als Verein unzufriedener bayrischer Gewerkschafter gegründete «Wahlalternative» wirklich zu einer überregionalen Partei mit Erfolgsaussichten entwickelt. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Gruppen links von der SPD ihre Kräfte bündeln oder ob es zum dauerhaften Schisma zwischen den Linkspopulisten im Westen und denen im Osten kommt.
Die PDS reagiert zögerlich auf Vorschläge einer Kooperation oder gar Fusion. Die SED- Nachfolgerin wird in den neuen Ländern als Stimme des Ostens akzeptiert, und eine Mutation zu einer halb westlichen Partei könnte diesen einzigartigen Status zwischen Elbe und Oder gefährden. Daher plädiert derzeit nur der frühere PDS-Vorsitzende Gysi, der unerwartet wie Lafontaine von seinem Posten als Berliner Landesminister desertierte und nun offenkundig ein Comeback versucht, für ein Zusammengehen mit der «Wahlalternative». Ganz auf sich allein gestellt, ohne Unterstützung durch die PDS, dürfte es einer westdeutschen Linkspartei allerdings schwer fallen, Parlamentsmandate zu erringen. Zum zweiten Mal nach 1990, als die Wiedervereinigung Lafontaine den bereits sicher geglaubten Einzug ins Kanzleramt verbaute, könnten die politischen Ambitionen des Saarländers an Ostdeutschland scheitern.
NZZ 1.09.2004 |