Populismus ist Teil der Massendemokratie - und ihr Problem
Von Helmut Dubiel
Populismus © ZEIT
Der Populismus, der Europa zurzeit heimsucht, ist weder neu, noch wurde er auf dem alten Kontinent erfunden. "Populistisch" ist ursprünglich ein Begriff der Sozialgeschichte. Angewendet wurde er auf Bauernbewegungen in den Vereinigten Staaten, in Russland und in Südosteuropa, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Reaktion auf die kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors aufkamen. Ähnliche Bewegungen bildeten sich einige Jahrzehnte später in den großen Städten Lateinamerikas infolge der Zuwanderung ländlicher Migranten. Diese verarmten Massen bildeten für die so genannten populistischen Diktatoren wie Vargas in Brasilien und Perón in Argentinien das Potenzial, auf das sie sich in ihrem Kampf gegen die eingesessene Oligarchie stützten. Seither bezeichnet das Wort "populistisch" nicht nur einen Typus sozialer Bewegung, sondern auch eine Herrschaftstechnik, derer sich eine Elite bedient, um mithilfe des "Volkes" an die Macht zu kommen.
Historisch geprägt war der soziologische Gebrauch des Begriffs von den amerikanischen Populisten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren viele Kleinbauern Nordamerikas vom neu errichteten Eisenbahnsystem und von einem sich rasch ausbreitenden Bankwesen abhängig geworden. Sie wurden zur "Zielgruppe" dieses neuen politischen Prototyps der Populisten. Der Inhalt ihrer Forderungen war letztlich sozialdemokratisch, doch das war nicht der Grund für die schillernde Bedeutung dieses Begriffs. Die Ursache dafür war vielmehr ihr Stil, mit dem sie ihre Klientel zu mobilisieren pflegten. Sie knüpften bei ihrer politischen Agitation an bei dem Misstrauen der Bauern gegen Berufspolitiker, Juristen, Banker und Großunternehmer. Diese erschienen ihnen als die personalen Verkörperungen jener abstrakten ökonomischen Triebkräfte, unter deren Räder sie gekommen waren.
Heute ist "populistisch" in der politischen Kommunikation ein Schimpfwort, in Amerika wie in Europa. Kein deutscher Politiker, nicht einmal Möllemann, würde von sich sagen: "Ich bin ein Populist." Dabei stammt der Begriff wortgeschichtlich vom lateinischen populus ab, einer Übersetzung des griechischen Wortes demos - des Wortstammes des Begriffs Demokratie. Die griechische Fassung des Wortes "Volk" bezeichnet etwas Gutes. In seiner lateinischen Fassung hingegen steht es h e u t e für eine pathologische Verfassung der politischen Kommunikation, vielseitig verwendbar, wie sich alsbald zeigen sollte. War es anfangs vor allem die Rechte, die das Schimpfwort Populismus gegen die Linke ("Linkspopulisten") ins Treffen führte, so wird der Begriff heute vor allem auch von der Linken zu ihrer Kritik an der Rechten ("Rechtspopulisten") herangezogen.
Populist ist immer der andere
Die konservative Kulturkritik benutzte das Schlagwort "Linkspopulismus" in erster Linie zur Diskreditierung der ökologischen, feministischen und radikaldemokratischen Bewegungen, die sich heute zum Teil in der Antiglobalisierungsbewegung neu formieren. Deren Kämpfe für eine unversehrte Umwelt, für eine Gleichberechtigung der Geschlechter und heute für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung werden von ihren Kritikern als ein ebenso irrationaler Windmühlenkampf gegen eine unaufhaltsame Modernisierung dargestellt wie einst die Kämpfe der amerikanischen Bauern gegen die Eisenbahn. Dahinter steckt ein technokratisches Weltbild, demzufolge es für die Entwicklung moderner Gesellschaften nur einen einzigen Pfad gibt, - einen Pfad, der durch die stummen Zwänge der Weltwirtschaft, der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und der staatlichen Bürokratie vorgezeichnet ist. Die konservative britische Premierministerin Thatcher, in vielerlei Hinsicht die Mutter des Rechtspopulismus, hat dieses Weltbild auf die simple, aber einprägsame Formel gebracht: There Is No Alternative - es gibt keine Alternative. In ironischer Absicht spricht man noch heute, gestützt auf die Anfangsbuchstaben, vom "Tina-Prinzip".
Was ist nun Links-, was ist Rechtspopulismus? Haben beide Begriffe, bis auf den Wortstamm, etwas gemeinsam? Jedenfalls sind die sozialen Gruppen, die für populistische Politik empfänglich sein sollen, völlig unterschiedlich. Für Sozialdemokraten sind die von sozialem Abstieg bedrohten Teile der Mittelschicht, ungelernte Arbeiter und kleine Selbstständige das klassische "rechtspopulistische" Potenzial. Für die konservativen Freunde der Moderne sind die Ostermarschteilnehmer, die Frauenbeauftragten, der grüne Landrat und die in Attacorganisierten Lehrer und Sozialarbeiter et cetera das "linkspopulistische" Potenzial. Beide Verwendungsweisen, links wie rechts, haben jedoch auch etwas hintergründig Gemeinsames. Sie teilen ein rationalistisches Vorurteil gegenüber dem Prozess der politischen Willensbildung in der Bevölkerung. Sie unterstellen, es seien stets rationale Gründe und nicht "Affekte", Gefühle, Träume, die Menschen motivieren, in politischen Entscheidungssituationen so oder so abzustimmen.
Was "rational" - also politisch vernünftig - ist, sehen beide Lager allerdings unterschiedlich. Die Linke und die Sozialdemokraten gingen zunächst immer von der Erwartung aus, die Arbeiter seien imstande, ihren sozialen Interessen gemäß zu handeln. Das war ein fürwahr hartnäckiges Vorurteil, das es der Linken bis heute schwer macht zu begreifen, wieso Arbeitnehmer oft anders gehandelt haben und handeln, als ihr objektives Interesse es verlangen würde. Die technokratischen Konservativen wiederum finden es "rational" - also völlig normal und vernünftig -, wenn die Bürger die von Experten als "unausweichlich" definierten Zwänge des Fortschritts ohne Murren akzeptieren. In ihrem Weltbild erschöpft sich die Wahlfreiheit der Bürger in der stummen Akzeptanz weltwirtschaftlicher und technologischer Notwendigkeiten. Das ist in der Tat nur "vernünftig", wenn das Tina-Prinzip als herrschendes Paradigma durchgesetzt ist.
Schon die schlichte Lebenserfahrung lehrt uns freilich, dass zur politischen Willensbildung auch Glückserwartungen, Ansprüche auf Gerechtigkeit und die Erwartung sozialer Anerkennung gehören. Diese politisch relevanten Emotionen lassen sich nicht ausblenden. Sie spielen eine entscheidende Rolle, auch wenn sie schwer greifbar sind, weil sie zumeist aus negativem Anlass artikuliert werden, also dann, wenn sie als Empfindung vorenthaltenen Glücks auftreten, als Kränkung sozialer Ehre, als Empfindung verletzter Gerechtigkeit. In Zeiten eines überschaubaren sozialen Wandels - in politisch stabilen und kulturell gut integrierten Gesellschaften - bleiben diese emotionalen Potenziale meist unsichtbar eingebunden in überlieferte soziale Muster. Gewiss gibt es immer individuelle Fälle von erlebter Missachtung oder Kränkung. Politisch bedeutsam werden sie jedoch erst, wenn die Häufung solcher individuellen Erfahrungen jene Schwelle überschreitet, an der sie als kollektives Schicksal erkennbar und wirksam werden.
Für solche Situationen hat Lawrence Goodwyn, der Autor eines der bekanntesten Bücher über die Sozialgeschichte der USA, den Begriff des "populistischen Moments" (so auch der Titel seines Buches) geprägt. Damit will er eine besondere historische Konstellation kennzeichnen, in der eine plötzlich einsetzende soziale Veränderung, eine von anonymen Interessen diktierte Modernisierung eine kollektive Lebensform zerstört. Als historisches Beispiel dient Goodwyn das Schicksal der amerikanischen Kleinbauern, die in den Sog der Erschließung Nordamerikas durch die Eisenbahn und das Finanzkapital gerieten. Immer häufiger machen Historiker und Zeitdiagnostiker in den USA auf die eigentümliche Parallelle zwischen diesem Prozess vor mehr als einem Jahrhundert und den Folgen der Globalisierung aufmerksam, in deren Sog heute ganze Weltregionen geraten.
"Populistische Momente" sind mithin dadurch gekennzeichnet, dass den affektiven Bindungen betroffener Bevölkerungsgruppen an ihre überkommene Lebensform abrupt der Boden entzogen wird. In solchen sozialgeschichtlichen Momenten geschieht es, dass die kollektiven Glückserwartungen und die bislang nur individuellen Statusängste aus den üblichen kulturellen Mustern herausfallen und in den Zustand vagabundierender Motivmassen übergehen. Das ist die Stunde der Rattenfänger.
Die populistischen Parteien, ob von rechts oder von links, konkurrieren mit den etablierten Massenparteien um den kürzeren Draht zum Volk. Dass es seit einiger Zeit mit dem Verhältnis von Parteien und Volk nicht gut steht, pfeifen die Spatzen schon von den Dächern. Gerade in dem Jahrzehnt, in dem das Modell der liberalen Demokratie weltweit konkurrenzlos dasteht, scheint es seine Anziehungskraft für viele Bürger zu verlieren. Auffällig ist, dass sich das Misstrauen der Wähler primär an jenen Instanzen entzündet, denen die Verfassung die Aufgabe zugedacht hat, den Willen des Volkes in die staatliche Handlungsmacht zu vermitteln, nämlich den Parteien.
Anders als in den Jahren der Zwischenkriegszeit steht heute nicht die Qualität der demokratischen Einstellung der Bürger infrage. Gerade weil viele Bürger in den real existierenden Demokratien höhere Ansprüche gegenüber den sie repräsentierenden Organen und Personen entwickelt haben, sind sie diesen gegenüber kritischer eingestellt als früher. Diejenigen, die Politik als Beruf gewählt haben, glauben immer noch, erfolgreich dicke Bretter zu bohren. Dabei wissen alle, die den Betrieb kennen, dass der Spielraum für gestaltende Politik beengt ist. Die Zwänge der globalen ökonomischen Konkurrenz, die Entscheidungsvorgaben transnationaler Institutionen, die korporative Verflechtung der Gruppeninteressen sowie die schlichten Mehrheitsverhältnisse haben die Manövriermöglichkeiten nationaler Verantwortlicher radikal reduziert. Überdies war noch keine Generation von Politikern mit derartig komplexen und neuartigen Problemen konfrontiert. Wer überschaut noch die rechtlichen Bedingungen der Gewährleistung der "informationellen" Selbstbestimmung? Wer hat das Rezept für eine Politik, die den Frieden und die Einhaltung der Menschenrechte zugleich garantiert? Wer hat die Formel, mit der der globale Kapitalismus sozial- und demokratieverträglich gemacht werden könnte? Wie vermittelt man den Anspruch auf globale Gerechtigkeit und das Interesse vieler Bürger, die europäischen Grenzen für Armutswanderer zu schließen?
Dicke Bretter gibt es zuhauf. So dick waren sie vielleicht noch nie. Dennoch und womöglich gerade deshalb wird Politik - in Komplizenschaft mit den Medien - zusehends zu einer Art Ersatzpolitik, zur nur noch medienwirksamen Simulation von Handlungsmächtigkeit. "Der populistische Moment" wird in der Politik von heute auf Dauer gestellt. So werden die Rattenfänger zu einem endemischen Problem der Demokratie. Die Symptome dafür sind unübersehbar.
Alte Tabus, falsche Therapie
Der Rattenfänger holt die kleinen Leute dort ab, wo sie gerade sind - und lässt sie dort. Ihre rhetorische Technik hat der Literatursoziologe Leo Löwenthal einst mit der genialen Formel der "umgekehrten Psychoanalyse" bezeichnet. Ein guter Psychoanalytiker macht sich selbst überflüssig, indem er seine Patienten lehrt, sich aus neurotischen Verstrickungen und Ängsten zu lösen und somit Autonomie zu gewinnen. Der Populist macht das Gegenteil. Er verstärkt die unbewussten Ängste und neurotischen Zwänge seines Publikums, um es so an sich zu binden. Denn die Unmündigkeit der Klientel ist sein Kapital.
Der Kardinalfehler in dieser Situation wäre der, die öffentliche Debatte einzuschränken, in der vermeintlich guten Absicht, den Rattenfängern keine Bühne zu bieten. Die Versuchung, auf diese Scheintherapie zu vertrauen, ist groß, bekannt als Rückgriff auf alte Tabus, traditionelle Diskussionsverbote, orthodoxe Korrektheit. Doch das ist das Zwielicht, das die Rattenfänger lieben. Das Tageslicht einer streitbaren politischen Kultur hingegen vertreibt sie effektiver als jede Zensur, jedes Verbot und jeder Versuch der Exkommunikation.
Die politische Öffentlichkeit in der Demokratie ist ein empfindliches Wesen. Ihre Krankheiten kann man nur mit homöopathischen Mitteln heilen, also mit mehr Kommunikation. Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass es eine Demokratie ohne populistische Momente geben könnte. Entscheidend ist, dass die Demokraten der Situation gewachsen sind.
Der Soziologe Helmut Dubiel lehrt zurzeit an der New York University |