Berner Lüftchen
Von Eckart Lohse
Als Bundeskanzler Schröder Anfang des Jahres eine Woche lang Afrika bereiste, wurde an Bord der ihn transportierenden Luftwaffenmaschine der Film "Das Wunder von Bern" gezeigt. Die Vorführung - fand sie nun zufällig oder mit Bedacht statt - enthielt eine Botschaft für die Gegenwart: Wenn Deutschland sich auch nach schwerstem und selbstverschuldetem Sturz auf seine konstruktiven Kräfte besinnt, kann es wieder auf die Beine kommen und diese gewinnbringend einsetzen.
Am Mittwoch der zurückliegenden Woche hob der deutsche Fußball mit dem 1:1 gegen Brasilien vorsichtig den Kopf aus jener tiefen Grube, in die er spätestens mit der Europameisterschaft gestürzt war. Ganz zufällig war das am Abend jenes Tages, da im Bundestag zum ersten Mal nach einer demonstrationsgefüllten Sommerpause die Spitzen der politischen Lager im Rahmen der Haushaltsdebatte zum Grundsatzstreit über die Regierungspolitik zusammentrafen.
Angesichts der vielen Ungewißheiten über das Funktionieren und den Erfolg der Arbeitsmarktreformen, der nach wie vor düsteren Entwicklung der Arbeitslosigkeit, des Erstarkens der SED-Nachfolge-Partei PDS am linken und der NPD am rechten Rand vor den Wahlen in Sachsen und Brandenburg hätte man erwarten können, daß der Urheber der Reformen, Schröder also, den Plenarsaal als gerupftes Huhn verläßt. Dem war aber nicht so. Zwar war die Oppositionsrhetorik wie üblich scharf, im ein oder anderen Fall auch ätzend. Doch übertrieb es vor allem die Oppositionsführerin Merkel nicht mit der Härte gegen Schröder.
Ist die politische Führung jetzt schon zu schwach zur grundsätzlichen Auseinandersetzung?
Taumeln beide Volksparteien nur noch kraftlos der nächsten Bundestagswahl entgegen, Schröder gezeichnet von den Strapazen der Hartz-Reise, Merkel vom Kampf gegen die mindestens neunköpfige Unions-Hydra?
Politische Höhen wie jene, auf denen sich Schröder und Merkel aufhalten, erklimmt man nur mit einem feinen Gespür für die Stimmung im Volk. Dieses Gespür sagt beiden, daß fünfzig Jahre nach dem "Wunder von Bern" ein zartes Lüftchen von damals ins Jetzt weht.
Natürlich sind die Situationen nicht vergleichbar. Seinerzeit lag eine Katastrophe hinter Deutschland, diesmal nur eine lange Phase der Schwäche und Trägheit, im Begriff, zur kollektiven Depression zu werden. Doch das kraftspendende Gefühl, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen zu können und zu wollen, ist ähnlich und scheint wieder aufzukeimen.
Die Gewerkschaften reichen der SPD nach langem Streit die Hand, die Anti-Hartz- Demonstrationen im Osten halten sich auf einem überschaubaren Niveau und das auch nur, weil PDS und Gruppen wie Attac sich alle Mühe geben, die Plätze leidlich zu füllen. Von den selbsttragenden und häufig spontanen Protesten gegen den Irak-Krieg sind sie weit entfernt. Nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg in einer Woche werden sie womöglich ganz abebben. Für die PDS haben sie dann ihre Schuldigkeit getan. Auch sie erkennt, daß weite Teile der Bevölkerung die Reformen akzeptieren.
Dennoch liegt so etwas wie Kanzler-Dämmerung über dem politischen Berlin. In der Koalition wächst die Angst, daß die Winde von Bern zu spät in der Gegenwart ankommen könnten, vielleicht auch nur als Lüftchen. Des Kanzlers Gelassenheit, die echt ist, speist sich nicht aus der Gewißheit, das Land schon wieder auf Kurs gebracht und damit den Wahlsieg 2006 bereits in der Tasche zu haben.
Ruhig ist Schröder vielmehr, weil er weiß, daß er machtpolitisch seinen letzten großen Kampf austrägt. Gewinnt er ihn mit einem Erfolg seiner Reformpolitik, kann es sein, daß er über 2006 hinaus Kanzler bleibt, Rot-Grün von einer Episode zu einer Epoche wird. Verliert er, wird er schon bald viel Zeit für seine Familie haben.
Die Entscheidung fällt nicht 2006. Sie fällt in der ersten Hälfte des nächsten Jahres. Im Februar wird in Schleswig-Holstein gewählt, im Mai in Nordrhein-Westfalen. In beiden Ländern kann es gut sein, daß die SPD die Macht verliert. Vor allem wenn das in Düsseldorf geschieht, wird es eng für Schröder. Seine Regierung wäre wegen der Zweidrittelmehrheit der Union im Bundesrat nicht mehr handlungsfähig.
Inzwischen gibt es in Berlin viele Anzeichen dafür, daß dann die Operation Müntefering einsetzen würde. Der Parteivorsitzende und einzige echte Traditionssozialdemokrat auf der obersten Führungsebene würde die Rettung der SPD als Volkspartei in die Hand nehmen. Vielleicht sogar mit dem Dringen auf Vorziehen der nächsten Bundestagswahl, sei es auch um den Preis, daß die SPD nicht mehr den Kanzler stellt.
Schröder, übrigens auch Vizekanzler Fischer, würden den Geschichtsbüchern überantwortet. Will Angela Merkel dann regieren, wird sie ihre Hydra unter Kontrolle gebracht haben müssen.
Dem Land stehen entscheidende Monate bevor.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.09.2004, Nr. 37 / Seite 12 |