Putins Regime?
Selbst russische Medien beschleicht das unheimliche Gefühl, dass inzwischen nichts mehr "unantastbar" ist und die Grenzen zwischen Provokation und Realität verschwimmen. Es wird gefragt: Ist Russland gar kein Staat, sondern Organisierte Kriminalität?
Der ehemalige stellvertretende Leiter der russischen Umwelt-, Nuklear- und Naturschutzbehörde, Oleg Mitwol (55) wurde kürzlich am Moskauer Flughafen Wnukowo festgenommen. Er soll 900 Millionen Rubel (rund 15 Millionen Euro) unterschlagen haben, die für den U-Bahn-Bau von Krasnojarsk bestimmt waren und wollte damit angeblich nach Dubai flüchten. Das warf ein weiteres Mal ein grelles Licht auf die verbreitete Korruption und Vetternwirtschaft in der russischen Elite. Das ganze Regime könne nur noch als "einfallsreiches Banditentum" bezeichnet werden, meint der Historiker Yaroslav Shimov vom Institut für Slawische und Balkanstudien der Russischen Akademie der Wissenschaft: "Mit anderen Worten, es ist kein Staat in dem Sinne, wie Demokratien und 'normale' Diktaturen Staaten sind."
"Bestimmung ist es, sich selbst zu erhalten"
Der wesentliche Unterschied zu anderen autoritären Regimen, etwa dem chinesischen, sei die mangelnde "institutionelle Basis" der russischen Führung. "Putins Regime ist ein Neoplasma, das aus dem schwachen Staatskörper des postsowjetischen Russlands hervorgegangen ist, der noch keine Zeit hatte, wirklich Gestalt anzunehmen. Seine Bestimmung ist es, sich selbst zu erhalten und zu reproduzieren, einschließlich der Übertragung von Macht und Eigentum an die nächste Generation von Clanmitgliedern. Dieses Ziel kann mit allen Mitteln durchgesetzt werden, in dieser Hinsicht ist das Regime, wie jede organisierte kriminelle Gruppe, sehr undurchschaubar." Im Alltag werde das dadurch deutlich, das Sicherheitskräfte und Justiz gegenüber politischen Gegnern staatliche Normen missachteten. Gesetze seien in diesen Fällen bedeutungslos. Dass es soweit kam, habe der Westen teilweise mitzuverantworten: "Die Zeit von 2008 bis 2013, als die entscheidende Stärkung der organisierten kriminellen Gruppe des Kreml stattfand, verbrachte der Westen in seine eigenen Sorgen vertieft: in die globale Wirtschaftskrise; in die Spaltung der Europäischen Union in einen wohlhabenden Norden und einen verschuldeten Süden; im Wachstum der Macht eines neuen globalen Konkurrenten - China; und endlich kam auch noch der Arabische Frühling dazu."
"Gewalt, Angst und Erpressung"
Die Mafia neige grundsätzlich nicht zu Kompromissen, so Shimov, das gelte auch für Putins Regime. In Krisen werde nicht aufgegeben, sondern der Einsatz erhöht: "Eine organisierte kriminelle Gruppe überlebt nur so lange, wie sie in der Lage ist, Ressourcen aus dem System zu saugen, das sie mit Hilfe von Gewalt, Angst und Erpressung ausplündert, seien es Alkohol- und Zigarettenhandel oder ein riesiges Land." Weiteres Kennzeichen solcher Clans sei das Revierverhalten: Politik werde als "Kampf um Einflusssphären" verstanden. Dass sich Großkriminelle mit staatlichen Einrichtungen gleichsetzen, sei ebenfalls nicht neu: "Es ist bekannt, dass Gangster ihre Anwesenheit mit der Notwendigkeit rechtfertigen, jene Unternehmer schützen zu müssen, von denen sie Abgaben kassieren, um gefährliche Konkurrenten auf Abstand zu halten."
"Russland abzuschotten ist unmöglich"
Die Sanktionen träfen die russische Elite weniger als die übrige Gesellschaft, so Shimov, der auch davor warnt, Putin auf Dauer isolieren zu wollen: "Die 'Obdachlosigkeit' des postsowjetischen Russlands hat vergiftende Folgen. Aber die aktuelle Katastrophe sollte von Europa und Amerika nicht als Vorwand genommen werden, sich für immer von Russland abzuschotten – das ist offensichtlich unmöglich." Allerdings werde das Land nicht mehr den bisherigen Platz in der Weltpolitik und -wirtschaft einnehmen können. Zu den rabiatesten Wortführern des Regimes gehört seit Kriegsausbruch der Ex-Präsident und jetzige stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, der auf seinem Telegram-Account tatsächlich gern eine Art Gangster-Slang bemüht und aktuell sogar russische Medien schockierte: "Nur eine Frage: Wer hat gesagt, dass die Ukraine in zwei Jahren überhaupt noch auf der Weltkarte existieren wird?" Die Amerikaner könnten ihre Kredite an Kiew jedenfalls abschreiben.
"Es trägt absolut nichts zur Sicherheit bei"
Damit mobilisierte Medwedew sofort einige andere Radikale wie den Politologen Alexei Mukhin, der in der "Prawda" die Ukraine als "faulen Vermögenswert" und "seltsamen Staat" bezeichnete. Noch weiter rechts stehende Krawall-Politiker wie der Parlamentsabgeordnete Jewgeni Fedorow sprechen nicht nur der Ukraine jegliche Legitimität ab, sondern gleich allen Staaten, die früher mal zur UdSSR gehörten. Damit verschwimme die Grenze zwischen dem politischen Irrsinn und der Realität immer mehr, urteilt die vorsichtig kremlkritische "Nesawissimaja Gaseta". Das Blatt bestätigt indirekt die Analyse von Historiker Yaroslav Shimov, wonach Kriminelle an der Staatsspitze das Sagen haben. Nichts sei mehr unantastbar, nicht die Abschaffung der Todesstrafe, die Privatisierung, die Freiheitsrechte, die Grundlagen der Außenpolitik, unterschriebene Abkommen und Verträge, alles stehe zur Disposition. Die Verfassung sei nur noch auf dem Papier "liberal": "Man kann dadurch nur den Eindruck der Unberechenbarkeit Russlands verstärken, während es nichts, absolut nichts zu seiner Sicherheit beiträgt."
Glauben die Urheber ihrer eigenen Propaganda?
Bedenklich findet die Zeitung mit Blick auf Medwedews Textnachrichten, dass niemand mehr zu sagen wisse, ob das schon Regierungspolitik sei oder noch eine Privatmeinung: "Wie dem auch sei, es gibt Grund zu der Annahme, dass viele Regierungsvertreter, auch auf höchster Ebene, das Bild, das die Medien zeichnen, als real akzeptieren." Das würde bedeuten, dass die Urheber ihrer eigenen Propaganda glauben. Ob das schon kriminell ist oder nur Ideologie, darüber werden die Meinungen wohl auseinander gehen.
Quelle: https://www.br.de/nachrichten/kultur/...ell-ist-putins-regime,T8rL5hf |