Nermeen Shaikh: Professor Chomsky, so wie ja auch Fabian Scheidler in seinem Buch, vertreten sie die Ansicht, dass das System des Nationalstaats zu nie dagewesenen Gewaltexzessen geführt hat. Die Europäische Union sehen Sie als Möglichkeit, die Grenzen des Nationalstaats in gewissem Sinne zu überwinden. Würden Sie angesichts des Brexits und anderer Entwicklungen die Einschätzung teilen, dass, dieses Modell der EU im Zerfall begriffen ist – dass es an Anziehungskraft verliert, anstatt sich universell durchzusetzen? Halten sie es für möglich, dass der Nationalstaat an Macht einbüßen könnte? Vielleicht nicht in den USA, wo es gar nicht danach aussieht, aber anderswo? Noam Chomsky: Ich würde sagen, dass die USA viel mehr noch als die Europäische Union vor einem drohenden Zusammenbruch stehen. Ein Bürgerkrieg ist derzeit in den USA nicht ausgeschlossen – und das behaupten nicht nur Randgruppen. Kürzlich haben zwei hochrangige Militärkommandanten, John Nagl und ein weiterer Oberstleutnant einen bemerkenswerten offenen Brief an General Milley geschrieben, den Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte. Es handelt sich dabei nicht um Randfiguren, sondern um hoch angesehene Persönlichkeiten aus dem Zentrum des militärischen Establishments. In dem Brief weisen sie Milley auf dessen verfassungsmäße Pflichten hin, denen er nachzukommen hätte, falls Trump sich weigern sollte, im Falle einer Wahlniederlage sein Amt abzugeben. Trump könnte sich mit paramilitärischen Kräften umgeben, wie er sie auch nach Portland geschickt hat, um die Menschen dort zu terrorisieren. Er hat bewusst nicht die Armee entsandt, weil diese ihm wahrscheinlich nicht Folge geleistet hätte. Stattdessen hat er Sicherheitskräfte wie die taktischen Einheiten des Grenzschutzes geschickt, die in der Wüste, in Tucson, unmittelbar südlich von dort, wo ich wohne, Angst und Schrecken verbreitet haben. Was ist, wenn er sich mit solchen Einheiten oder mit Milizen umgibt? In seinem Brief schreibt Nagl an Milley, dass es in diesem Fall seine Pflicht sei, militärische Kräfte wie die 82. US-Luftlandedivision zu schicken, um Trump aus dem Amt zu befördern. Das wäre das erste Mal, dass in einer parlamentarischen Demokratie so etwas passiert. Der offene Brief ist nicht alles, es gibt auch ein sogenanntes Transition Integrity Project, auf sehr hoher Ebene, mit führenden Persönlichkeiten aus der demokratischen und der republikanischen Partei, renommierten Analysten und so weiter – alles Leute aus dem absoluten Mainstream. Sie haben militärische Planspiele entworfen, um durchzuspielen, was nach der Wahl passieren könnte. Vor kurzem haben sie ihre Ergebnisse vorgestellt. Sie kommen zu dem Schluss, dass jedes Szenario, außer ein Wahlsieg Trumps, zu einem Bürgerkrieg führen könnte, weil wir einen größenwahnsinnigen Psychopathen im Weißen Haus sitzen haben. Es ist nicht jemand wie Richard Nixon, der zwar nicht gerade der sympathischste aller Präsidenten war, aber immerhin ein Mensch. Die Wahl von 1960 hat Nixon vermutlich gewonnen, aber aufgrund von Machenschaften der demokratischen Parteiaktivisten in Chicago und anderswo wurde Kennedy zum Sieger erklärt. Nixon hätte die Wahl anfechten können, aber ihm war das Wohl des Landes an diesem Punkt wichtiger als sein eigener Aufstieg. Er akzeptierte daher die Niederlage, obwohl er wahrscheinlich gewonnen hatte. Dasselbe ist vierzig Jahre später mit Al Gore passiert, als die Wahl mit Sicherheit zu Unrecht für Bush entschieden wurde. Al Gore hat aufgegeben, weil er das Land nicht kaputt machen wollte. Aber diesmal ist es anders, weil wir einen Unmenschen im Amt haben, auch wenn er sich vielleicht als Mensch ausgibt. Die Spaltung, die sich in Europa vollzieht – und darauf komme ich gleich noch zurück – tritt in den USA in einem viel schlimmeren Maße auf. Sie ist äußerst akut. ...
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