...Er ist ein Meister des politischen Überlebens. Der verheerende Angriff auf Israel aber dürfte das Ende von Premierminister Benjamin Netanjahu einläuten, sagt sein Biograf Anshel Pfeffer.
Es war in den letzten Tagen des Jahres 2008. Zwischen Israel und militanten Palästinensern im Gazastreifen begann gerade eine weitere Runde des Krieges, da wurde eine Rakete auf die israelische Stadt Aschkelon abgefeuert. Sie schlug in der Nähe einer Schule ein, verletzte aber niemanden. Nur wenige Minuten später trat der damalige Oppositionsführer am Ort des Geschehens vor die Kameras: "Es gibt nur eines, was die Bedrohung beseitigen kann, und das ist der Sturz der Hamas-Herrschaft in Gaza." Er versprach: "Wir werden das Terrorregime der Hamas stürzen."
Weniger als zwei Monate später gewann Benjamin Netanjahu die Wahl und wurde Israels Premierminister. 15 Jahre sind seit damals vergangen. Und in dreizehneinhalb davon war Benjamin Netanjahu Ministerpräsident von Israel. Er hat die Hamas allerdings nicht gestürzt – die Terrorgruppe hat sich vielmehr im Gazastreifen verschanzt und eine Kampftruppe aufgebaut, die gefährlicher ist als viele nationale Armeen. Am frühen Samstag strömten mehr als tausend Hamas-Kämpfer durch Lücken im Grenzzaun und verübten den schlimmsten Terroranschlag, den Israel je erlebt hat. Hunderte wurden getötet oder als Geisel in den Gazastreifen verschleppt, darunter kleine Kinder und ältere Menschen. Gaza schlicht ignoriertBenjamin Netanjahu hat sich zum Scheitern seiner Strategie nicht öffentlich geäußert. Natürlich ist er nicht der Einzige, der Schuld an der derzeitigen Lage hat. Wir haben ein kollektives Versagen der Streitkräfte und Geheimdienste erlebt. Aber die letzte Verantwortung trägt er, der Premierminister – Netanjahu hat viele Jahre seiner Amtszeit das Gaza-Problem schlicht ignoriert. 
Israel hat die Hamas und den Islamischen Dschihad im Gazastreifen in regelmäßigen Abständen bekämpft, meist nachdem von dort mit Raketen israelische Dörfer beschossen worden waren. Aber jedes Mal, wenn wieder ein Waffenstillstand erreicht wurde, kümmerte sich Netanjahu sofort wieder um anderes, was ihm mehr Herzen lag. Es versuchte nicht einmal, eine langfristige Politik zu formulieren, wie man mit der Hamas und dem Gazastreifen umgehen solle.
Netanjahu ist Sohn eines Historikers. Er interessiert sich sehr für Geschichte, er will selbst ein Erbe hinterlassen. Er sieht sich auch als derjenige, der Israels Hightech-Wirtschaft aufgebaut hat, der das Land vor der Bedrohung durch den Iran geschützt hat, der historische Abkommen zwischen Israel und arabischen Ländern auf den Weg gebracht hat. Die meisten seiner Behauptungen halten der Realität nicht stand, aber er hat es geschafft, dieses Narrativ in die Welt zu setzen. Und viele Israelis haben ihm geglaubt. Das ist vorbei. Netanjahus Erbe ist nun für immer befleckt. Unter seiner Führung erlebte Israel die größte militärische Katastrophe und das größte Versagen der Geheimdienste seit dem Jom Kippur-Krieg. Damals, vor genau 50 Jahren, wurde das Land vom gleichzeitigen Angriff ägyptischer und syrischer Truppen überrascht. Unter Netanjahus Führung musste Israel nun die größte Anzahl an zivilen Opfern seit dem Unabhängigkeitskrieg vor 75 Jahren hinnehmen. So wird er in die Geschichte eingehen. Netanjahu weiß, wie man politisch überlebt. Eine Weile noch wird er im Amt bleiben. Während eines Krieges wechselt Israel normalerweise nicht seine Führer aus. Und auch wenn der erbitterte Kampf in Gaza vorbei ist, wird man ihn nicht sofort stürzen. Seine rechtsextremen und ultrareligiösen Koalitionspartner wissen, dass sie niemals mehr so viel Macht und Geld haben werden wie in der derzeitigen Regierung. Früher oder später aber wird er aus dem Amt gejagt werden – und danach mit Sicherheit keine Wahlen mehr gewinnen. Die Angehörigen als LobbyDafür werden auch die Familien derer sorgen, die jetzt in den Gazastreifen verschleppt wurden. Noch am Sonntagabend haben sie ihre eigene Organisation gegründet. Verzweifelt beklagten sie sich, dass sie noch von keinem Regierungsvertreter kontaktiert wurden – während sie auf Social Media-Kanälen das Gelächter von Hamas-Kämpfern hören mussten, die ihre Angehörigen misshandeln. Viele dieser Familien standen bis zum Angriff hinter Netanjahu. Das ist vorbei. Sie werden die einflussreichste Lobby im Land werden, solange, bis ihre Angehörigen freigelassen werden. Mr. Economy und Mr. Security, so ließ sich Netanjahu gerne nennen. Wirtschaft und Sicherheit. Von nun wird man ihn anders nennen: Mr. Failure – derjenige, der das Versagen verantwortet hat. Diesen Titel wird er nie wieder loswerden. https://www.stern.de/politik/ausland/...fuehren-duerfte-33896864.html
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