Venezuelas linkspopulistischer Präsident Chávez besucht Europa und verkündet dort eine neue sozialistische Internationale. Nicht nur Altlinke liegen ihm zu Füßen. Von Henning Hoff
Seit gestern ist er in town: Hugo Chávez, „populistischer“ Präsident von Venezuela, wortgewaltiger, umstrittener Anführer von Südamerikas jüngsten Schwenk nach links, schärfster Kritiker von US-Präsident George W. Bush („ein Krimineller, der vor ein internationales Gericht gehört“) und des britischen Premierministers Tony Blair („Büttel des Imperialismus“), kam via Wien und Vatikan nach London.
Seitdem ist die Stadt verzaubert, zumindest, wenn man im Herzen ein alter oder junger Linker ist. Chávez’ Besuch ist „privat“. Eingeladen hat ihn der Londoner Oberbürgermeister Ken Livingstone, Labours berühmt-berüchtigter Linksaußen, nach einigen Jahren Parteiausschluss wegen anhaltender Popularität wieder in die Parteireihen aufgenommen. Für Livingstone ist Chávez „das Beste, das seit Jahrzehnten aus Lateinamerika gekommen ist“. Und irgendwie sind ganz plötzlich die guten alten linksromantischen Zeiten wieder da.
Im alten Camden-Centre im Londoner Norden, ein Art-déco-Schmuckstück von 1937, hat Chávez am Sonntag dreieinhalb Stunden lang vor einem 800-köpfigen, faszinierten Publikum geredet. (Eine ähnliche Veranstaltung am Samstag in Wien verlief, wenn man dem Independent glauben kann, bei weitem nicht so erfolgreich). Hätte ihn Livingstone am Montagnachmittag auf der gemeinsamen Pressekonferenz in City Hall, dem kugeligen Bürgermeister- und Stadtversammlungssitz mit Blick auf den Tower, nicht gelegentlich gebremst, wäre auch dies eine langwierige Veranstaltung geworden – und Literaturnobelpreisträger Harold Pinter, der linke Labour-Veteran Tony Benn, Gewerkschafter und Parlamentsabgeordnete hätten noch länger auf ihren gemeinsamen Lunch warten müssen.
Chávez, der die Statur eines Preisboxers hat und von seiner Umgebung ähnlich behandelt wird, ist ohne Zweifel eine beeindruckende, charismatische Persönlichkeit – und seine politische Rhetorik gelegentlich so kindlich-naiv, so politisch unschuldig, dass man sich fragt, wie er sich an der Macht hält (ein 2002 offenbar von den USA gesponsorter Putschversuch scheiterte).
Chávez’ Botschaften sind einfach, sie laufen auf eine Art „Robin-Hood“-Sozialismus heraus. Erstmals nutzt Chávez den jüngst noch an Wert gewachsenen Ölreichtum Venezuelas, um den natürlichen Reichtum den Ärmsten der Armen zugute kommen zu lassen – und nicht nur daheim. Schon in Wien, beim EU-Lateinamerikagipfel vergangene Woche, wo ihn Tony Blair und die anderen zu „verantwortlichem Handeln“ aufriefen, kündigte Chávez direkte Heizölhilfe an. Vergangenen Winter ließ er in den USA sozial Schwache mit dem Brennstoff kostenlos beliefern, nun soll wohl auch Europa an die Reihe kommen.
Über diese milde Gabe hinaus: Was will Venezuelas Präsident international? Leicht ist die Antwort nicht. Aber deutlich wird: Chávez scheint wirklich an „Internationalismus“ im klassischen, sozialistischen Sinne zu glauben. Internationale Beziehungen sollten auf „Solidarität, ich wiederhole: Solidarität“ begründet sein, sagt er, „das werden die in Washington nie verstehen, sie haben keine Achtung vor dem internationalen Recht.“
In Wien sei immer nur die Rede von Öl gewesen, dabei sei sein Land auch an anderen Energiebeziehungen interessiert, an Solarenergie, an Windenergie, überhaupt an alternativen Energien. Denn selbst die Erdgas-Pipeline, die er im Moment plant, von Caracas bis zu Amerikas Südspitze, könne den Menschen des Kontinents zwar 150 Jahre lang günstige Energie liefern, aber kaum länger. Dies sei übrigens keine Bedrohung für irgendwen: Habe nicht auch die EU als Kohle- und Stahlgemeinschaft begonnen?
Als er sich anschließend eine ganze Weile darüber aufregt, wie Menschen es fertig bringen, allein im Auto herumzufahren, „90 Prozent tun das“, und so Energie zu verschwenden, das „schlimmste Beispiel für Individualismus und Kapitalismus“, muss selbst Livingstone etwas mehr als sonst lächeln. Trotzdem liegt Chávez' Botschaft am Ende gar nicht so weit von Bushs letzter „Ansprache an die Nation“ entfernt: „Der american way of life ist nicht aufrechtzuerhalten.“
Europas wichtigste Aufgabe sei derzeit, einen Iran-Krieg zu verhindern. Der venezolanische Präsident glaube im Übrigen nicht, dass „das iranische Volk Atombomben will, es will Atomenergie. „Venezuela hat das auch mal erwogen, Brasilien hat sie“, sagt Chávez, „wir glauben nicht, dass ein Land dem anderen die Möglichkeit zur atomaren Energiegewinnung verbieten sollte.“
Er sei kein Tyrann – so verunglimpfe ihn nur Washington -, schon gar kein „Imperialist“, der Südamerika beherrschen wolle. Er pflege auch Freundschaften mit politischen Gegnern wie dem kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe, der für eine Freihandelszone mit den Vereinigten Staaten sei und US-Truppen im Land dulde. Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen in Mexiko und Peru – wo sein Eintreten für linke Kandidaten denen bislang eher geschadet hat – hoffe er dennoch, sagt er ungewohnt bescheiden, auf „eine weitere Stärkung der Linken“.
Wie die neue Petro-Weltpolitik, deren Konturen allmählich deutlich werden, steht das Phänomen Chávez womöglich erst am Anfang. In London zumindest versprüht der Präsident Venezuelas einen unerschütterlichen Glauben an die sozialistische Zukunft. Fuchsteufelswild wird er für ein paar Augenblicke, als eine Journalistin vom spanischen Dienst der BBC ihn mit George Bush vergleicht („Wie er sagen Sie: entweder für mich oder gegen mich“). Mit diesem „zutiefst unmoralischen Attentäter“ dürfe ihn noch nicht mal Fidel Castro vergleichen, echauffiert er sich, um dann wieder ruhiger zu erzählen, wie es dazu kam: „Fidel“ habe ihm, als beide in getrennten Maschinen von einem Gipfel in Afrika zurück über den Atlantik flogen und Chávez ihn – von Flugzeug zu Flugzeug – angerufen habe, überrascht gesagt: „Telefonieren beim Fliegen: Ich dachte, das können nur Bush und Blair.“
ZEIT online, 16.5.2006 |