Junge Kulturschaffende rebellieren in New York gegen eine vermeintlich repressive Moral. Gut finanzierte Neurechte sehen in der „Dimes Square“-Szene ihre Chance auf Coolness.
Eine Ohrfeige, dann war Mike Crumplar drin im neuen Szenetreffpunkt von Manhattan. Eine „harte Tür“ könnte man das nennen, aber die Frau, die ihm ins Gesicht schlug, war keine Türsteherin. Crumplar hatte die Podcasterin Dasha Nekrasova in seinem Substack-Newsletter kritisiert – ihr stand der Sinn nach Genugtuung. Immerhin hielt die „Red Scare“-Gastgeberin Wort, er durfte ins „Sovereign House“. Die Ohrfeige wurde Teil der Insiderwitze, der Mythen und Memes der New Yorker „Dimes Square“-Szene. Dieser Mikrokosmos ist seit einigen Jahren Thema in Medien wie „Vanity Fair“ oder der „New York Times“.
Als Mittelpunkt avantgardistischer Kultur feiern sie das kleine Planquadrat in Chinatown, rund um das Restaurant „Dimes“, um „Clandestino“ und die „169 Bar“. Die Reichweite der Szene spiegelt sich in einer unüberschaubaren Zahl von Podcasts, Substacks, Instagram-Accounts. Und sie soll, glaubt man Kritikern wie Crumplar, attraktiv für neurechte, ja faschistische, Ideologen sein – und für die Milliardäre, die mit ihnen sympathisieren.
Mithilfe der jungen Kreativen wollten sie „cool“ werden, investierten Geld in die Szene – wie Peter Thiel, der im vergangenen Jahr hier ein Filmfestival finanzierte. Das Magazin „New Statesman“ beschrieb das Phänomen als „Hipster Wars“: Nichts weniger als die „Zukunft der amerikanischen Politik“ werde von den Trendsettern ausgefochten. Was ist da los?
Die „Dimes Square“-Szene zu beobachten ähnelt mal einem Theaterstück, mal einer Serie im Stil von „Gossip Girl“. Und mindestens die Hälfte davon spielt online, denn viele der Protagonisten haben gerade einmal das „Drinking Age“, also einundzwanzig Jahre, überschritten.
Ein Freitagabend in Greenpoint, einer jener Nachbarschaften von Brooklyn, die inzwischen so teuer sind wie Manhattan. Auf dem Dach einer ehemaligen Fabrik stehen junge Menschen mit Bierdosen. Es ist nach acht, aber die Hitze ist noch nicht gewichen. Nach und nach füllen die Gäste das Loft, setzen sich in die Stuhlreihen, neben Tische mit Kerzen und Aschenbechern. Regisseurin Calla Selicious lässt Schauspieler aus zwei Stücken lesen, „Kismet“ und „Klonopin“. Work in progress, sagt sie, die Leute sind hier, damit sie Reaktionen einfangen kann. Es geht um Liebe, Unsicherheit, Sorge um die Zukunft. Zwei junge Frauen fragen eine Wahrsagerin: Werden wir die Liebe finden? Das ist intellektuell nicht aufregend, aber unterhaltsam und fängt die Befindlichkeiten junger Menschen ein. Das „Brooklyn Institute for Theater Research“ gibt es noch nicht lange, und Matthew Gasda, der es gegründet hat, ist einer der bekannten Namen der „Downtown“-Szene. Sein Stück „Dimes Square“ verewigte 2022 die Stimmung der jungen Kreativen – es geht um Sex, Kunst, Drogen, um die Sehnsucht nach Freiheit. Der Stil ähnelt dem, was die Schauspielerinnen in Greenpoint lesen – unmittelbar, nah an der Sprache der Jungen, beschäftigt mit der Welt, die direkt um sie ist.
Nach der Lesung sitzt Gasda auf dem Dach, kurze Hosen, weißes Hemd, runde Brille. Er sieht jünger aus als Mitte dreißig, und er sagt den Satz „Ich bin kein Faschist“ ungefragt nach weniger als fünf Minuten. Das sagt mehr über die Stimmung in der Szene als über Gasda: In letzter Zeit werde eben viel geschrieben. Der Regisseur ist eigentlich ein Außenseiter in der Kulturwelt von Manhattan, hat keine reichen Eltern, ist nicht in der Stadt geboren. Sein Blick auf „Dimes Square“ sei bereits ein satirischer, wenn auch von innen. Gasda sagt, er sei eigentlich so etwas wie ein „gelangweilter Liberaler“. ...
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