DIE WELT 19.03.04
IN DER WAGENBURG
Vor dem SPD-Parteitag jagt eine schlechte Nachricht nach der anderen Gerhard Schröder. Im Kanzleramt ist sein Umfeld so pragmatisch wie ratlos. Durchhalten heißt die Parole. Aber wie lange noch?
von Nikolaus Blome
Als vor fast drei Wochen die hohen Gewerkschaftsfunktionäre um DGB-Chef Michael Sommer abends das Kanzleramt verließen, hatten sie in der Sache kaum Erfolg gehabt, aber einen gehörigen Schreck in den Knochen. "Gespenstisch" sei der Abschied von Gerhard Schröder gewesen, der zuvor energisch auf seinem Reformkurs bestanden hatte. "Die Geschichte wird mir Recht geben", habe er am Ende gesagt. Brütet Gerhard Schröder also doch immer häufiger über der "Zeit danach"?
Der Kanzler in seinem Kanzleramt. Trotzig ist die Stimmung in der Trutzburg aus Waschbeton. "Durchhalten", heißt es. "Was denn sonst?", fragt ein Berater überlaut, wie zur Selbstvergewisserung. Gegen die Stimmung im Land, gegen die eigene Partei, ach, irgendwie gegen alle eigentlich. Umstellt ist der Kanzler mehr denn je vielleicht von einem engsten Umfeld, das anders als rational nicht denken will: "Die Reformen müssen doch sein." Das Vertrauen sei zurückzugewinnen, wenn man jetzt nur Kurs halte. Mag wohl stimmen, Joschka Fischer, der Vizekanzler, sieht es ähnlich. Pragmatisch und ratlos. Doch die da draußen, vor allem in der SPD, die wollen Gefühl und Vision. Bekommen haben sie Franz Müntefering. Genutzt hat es noch nichts Greifbares.
Und die schlechten Nachrichten schlagen weiter ein wie Kanonenkugeln: Der Aufschwung lässt auf sich warten. Die Arbeitslosenzahl bleibt über vier Millionen. Die Umfragewerte liegen unter 25 Prozent. Das Kabinett wirkt ausgebrannt. Den wichtigsten Reformer, Wolfgang Clement, hat der Kanzler selbst gedemütigt, als er den Rückzug vom Parteivorsitz vor ihm geheim hielt. Eine Linkspartei droht sich von der SPD abzuspalten. Und: Volkszorn schürende Härten wie die Nullrunde brechen Mitte des Jahres über die Rentner und am 1. Januar 2005 über die Bezieher von Arbeitslosenhilfe herein, wenn sie auf Sozialhilfeniveau gesetzt werden - vier Monate vor der alles entscheidenden Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen.
"Kannste mit leben", hat der Kanzler kürzlich im kleinen Kreis über die Kritik von außen gesagt. Aber wie lange?
Mehr Zeit fürs Regieren hat Schröder sich und den Seinen vom Wechsel an der Parteispitze versprochen. Doch nur die Außenpolitiker im Kanzleramt nehmen eine erhöhte Bereitschaft Schröders war, "sich Sachen vortragen zu lassen, für die er früher keine Zeit hatte". Ansonsten scheint so vieles und scheinen so viele wie immer an Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier zu hängen, der "Übermenschliches leistet", wie ein Kabinettsmitglied sagt. Der "überfordert" sei, wie es von der Spitze anderer Ministerien heißt. Seine Abteilungsleiter sind zwar eine eingespielte Truppe, die sich untereinander duzt. Aber mit fünf Abteilungen und rund 500 Mann für das Tagesgeschäft lässt sich nicht allein regieren - und flächendeckende Kontrolle aller heiklen Vorgänge nicht gewährleisten. Dabei sollte "mehr Effizienz" die Antwort auf die handwerklichen Fehler vom Jahresanfang sein. Ein Problem nach dem anderen müsse jetzt abgearbeitet werden, ganz kontrolliert.
Doch Gerhard Schröder hat seine Arbeitsweise noch nicht wirklich verändert, sondern viel Zeit für die Partei verbraucht. Alle Sitzungen der SPD-Gremien hat er seit der Rückzugsankündigung selbst geleitet. Im Vorfeld des Parteitages am Sonntag empfing er etliche Parteigruppen, von links bis rechts, von Norden bis Süden.
"Enger führen" wolle das Kanzleramt nun, hatte es unmittelbar nach dem Wechsel geheißen. "Es ist nicht die Aufgabe des Kanzlers, sich hier einzubringen", sagte Regierungssprecher Béla Anda am Mittwoch zum heftigen Streit zwischen Wirtschafts- und Umweltminister über den Handel mit Verschmutzungsrechten der Industrie. Mancher Grüne sprach da bereits von "Koalitionskrise".
Kein Wunder, dass im Berliner Drucktopf die Gerüchte garen: Der Kanzler habe keine Lust mehr, raunt es aus der SPD-Bundestagsfraktion. Er sei auch physisch erschöpft, am liebsten würde er hinschmeißen, wollen andere wissen, die den recht fahrigen Auftritt zum Mautkompromiss am Abend der Hamburgwahl als Beleg nennen. Ruppig-gereizte Vorstellungen wie bei der SPD-Landesgruppe der Nordrhein-Westfalen vor zehn Tagen werden in der Fraktion mit "dünner Haut" oder "blanken Nerven" geradezu nachsichtig kommentiert. Früher hätten die meisten gekuscht vor dem Basta-Kanzler, der mit seinen Machtworten ein paar Dutzend namentliche Abstimmungen gewann.
Ganz kühl, ganz rational, fast Achselzuckend dagegen heißt die aktuelle Formel im Kanzleramt: "erst Konsolidierung, dann Kabinettsumbildung". Allein: Warum sollte sie dieses Mal aufgehen? Der Parteitag soll am Sonntag ohne Misstöne Franz Müntefering inthronisieren, der seinem Kanzler Loyalität versprochen hat. Der freilich hat seinen Vertrag mit der Partei gebrochen - "Ich gewinne euch die Wahlen, ihr folgt mir" - und hat sich in die Hand seines Nachfolgers begeben müssen. Im Falle des Falles dürfte Müntefering jedoch die SPD, das heißt ein Kurswechsel nach links, wichtiger sein als der Name des Sozialdemokraten im Kanzleramt.
In einer Woche dann will Gerhard Schröder in einer großen Regierungserklärung Bilanz ziehen und Zuversicht für die nächsten Wahlen Mitte Juni verbreiten. Drei Viertel aller Deutschen freilich glauben, dass sein Kurs "sozial ungerecht" sei. Alle Regierungserklärungen seit dem 14. März 2003 haben sie nicht umstimmen können.
Sicher ist dagegen die Bitterkeit und die mächtige Bildsprache des Momentes, der Gerhard Schröder am Sonntagmittag bevorsteht:
A b s c h i e d v o n e i n e m T e i l s e i n e r M a c h t, R ü c k z u g.
Und auch wenn gar nicht stimmt, dass der neue SPD-Chef vom alten die goldene Uhr des Parteigründers August Bebel bekommt - mancher im großen Saal wird die des Kanzlers weiter ablaufen sehen.
Artikel erschienen am 19. März 2004 |