Berlin (Reuters) - Angesichts der höheren Wachstumsprognose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute wird die Bundesregierung ihre Wachstumsschätzung für 2006 nach Angaben aus Koalitionskreisen auf 1,6 Prozent anheben.
"Die Wirtschaftsentwicklung wird insgesamt robuster", sagte Wirtschaftsminister Michael Glos am Donnerstag zum kurz zuvor veröffentlichten Frühjahresgutachten der Forschungsinstitute. Darin erhöhten die Konjunkturforscher ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr um 0,6 Prozentpunkte auf 1,8 Prozent. Unter dem Eindruck der geplanten Mehrwertsteuererhöhung erwarten sie aber 2007 schon wieder eine Abschwächung auf 1,2 Prozent. Die Wirtschaftsforscher forderten die Regierung, unterstützt von den großen Wirtschaftsverbänden, auf, die günstige Konjunktur zu umfassenden Reformen zu nutzen. Sie kritisierten, die Regierung gehe mit in ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik teils in die falsche Richtung, etwa bei der geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Budgetsanierung. Vertreter von Wirtschaft und Opposition forderten den Verzicht auf die Steuererhöhung.
Wirtschaftsminister Michael Glos wird am Freitag die neue Wachstumsprognose der Regierung vorstellen, die dann Grundlage für die amtliche Steuerschätzung im Mai sein wird. Die Analyse der Institute fließt in die Analyse der Regierungsexperten mit ein. In Koalitionskreisen hieß es, Glos werde den Schätzwert der Regierung für 2006 auf 1,6 Prozent von 1,4 Prozent anheben. Etliche Wirtschaftsexperten sind weitaus optimistischer. Die Regierung hat sich aber dazu bekannt, mit ihren Zahlen eher konservativ am unteren Rande der Erwartungen zu bleiben.
INSTITUTE: STÄRKSTES WACHSTUM SEIT BOOMJAHR 2000
Die Institute sprachen für 2006 vom stärksten Wachstum seit dem Boomjahr 2000. Das werde dazu beitragen, dass Deutschland beim Staatsdefizit, anders als von der Regierung erwartet, schon im laufenden Jahr mit 2,9 Prozent unter der europäischen Drei-Prozent-Marke bleibe. Überwunden sei die Wachstumsschwäche aber noch nicht. Die Bundesregierung habe kaum einen Anteil an dem Aufschwung, der nun auch die Inlandsnachfrage erreicht habe und auf den Arbeitsmarkt überzugreifen beginne. Bei ihr forderten die Wirtschaftsforscher umfassende und aufeinander abgestimmte Reformen ein. "Da müsste wesentlich mehr getan werden", sagte Eckhardt Wohlers vom Hamburger HWWA-Institut.
Bei der Flexibilisierung am Arbeitsmarkt konstatierten die Wirtschaftsforscher einen Stillstand. Die Budgetsanierung werde nicht entschieden genug und dann noch mit falschen Instrumenten, wie der Mehrwertsteuererhöhung, angegangen. Die Anhebung der Mehrwertsteuer berge das Risiko, dass die Löhne stärker als bislang stiegen, die Inflation zunehme und als Folge die Europäische Zentralbank die Zinsen stärker als bislang erwartet erhöhe. Zur Budgetsanierung sollten den Instituten zufolge Subventionen gekürzt und Steuervergünstigungen gestrichen werden. Eine Mehrwertsteuererhöhung sollte reserviert bleiben, um bei einer Unternehmenssteuerreform die Firmen zu entlasten.
WIRTSCHAFT: JETZT EHRGEIZIG REFORMEN ANGEHEN
"Das Frühjahresgutachten zeigt, dass der wirtschaftspolitische Handlungsbedarf unverändert groß ist", sagte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Ähnlich äußerten sich BDI-Präsident Jürgen Thumann, DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben und andere Wirtschaftsführer. Außenhandelspräsident Anton Börner und andere werteten das Gutachten als Beleg, dass Steuererhöhungen konjunkturschädlich und der falsche Weg seien. Der Einzelhandelsverband HDE nahm die Anmerkungen der Experten auf und forderte, auf die zum 1. Januar 2007 geplante Anhebung der Mehrwertsteuer zu verzichten. Auch bei FDP und Grünen stand die Mehrwertsteuererhöhung im Zentrum der Kritik. Dagegen verteidigte der SPD-Fraktionsvize Joachim Poß diese. Die Empfehlungen der Wirtschaftsforscher, stärker bei den Ausgaben einzusparen, nannte er unrealistisch und politisch unbrauchbar.
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