sind die baltischen Staaten dran“
Ein ukrainischer Sieg sei im Interesse Europas, sagt Russlands ehemaliger Regierungschef Michail Kassjanow. Einen Friedensschluss auf Kosten der Ukraine lehnt er ab.
Der russische Oppositionelle und ehemalige Ministerpräsident Michail Kassjanow hat vor verheerenden Folgen für Europa gewarnt, sollte die Ukraine den Krieg gegen Russland verlieren. "Wenn die Ukraine fällt, sind die baltischen Staaten als Nächstes dran", warnte er in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. Er appellierte an den Westen, keine Zugeständnisse an den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu machen.
So lehnt Kassjanow die Einschätzung von Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, wonach Putin nicht "gedemütigt" werden dürfe, "kategorisch" ab. Auch sehe er Forderungen an die Ukraine, zugunsten einer Friedenslösung Gebiete an Russland abzutreten, äußert kritisch. "Was hat Putin getan, um das zu verdienen?", fragte der Politiker. "Ich halte das für falsch und hoffe, dass der Westen nicht diesen Weg beschreiten wird."
Vor allem in osteuropäischen Staaten hatte Macrons Äußerung für heftige Kritik gesorgt. Gespräche mit Putin, wie sie der französische Präsident und auch Bundeskanzler Olaf Scholz seit Kriegsbeginn mehrfach geführt haben, nannte etwa Estlands Regierungschefin Kaja Kallas "sinnlos".
Die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland gehören, anders als die Ukraine, der Nato an. Dennoch fürchten sie einen möglichen russischen Angriff. So könnte Putin etwa versuchen, die russische Exklave Kaliningrad wieder mit dem restlichen Staatsgebiet zu vereinen. Ein Angriff auf die baltischen Staaten hätte jedoch den Kriegseintritt der Nato zur Folge. Konkrete Ambitionen in Bezug darauf hat Putin bisher nicht genannt. Anfang Juni hatte die rechtsextreme LDPR jedoch einen Gesetzesantrag im russischen Parlament eingebracht, der die Anerkennung von Litauens Unabhängigkeit von der Sowjetunion aufheben soll.
Putin redet offen über Expansion
Vertreter der Ukraine hatten insbesondere abgelehnt, von Russland besetzte Gebiete abzutreten. Sie befürchten, dass Putin einen so zustande gekommenen Frieden ausnutzen würde, um seine Armee neu aufzustellen und in der Zukunft erneut anzugreifen. Zudem verweisen sie auf zahlreiche Menschenrechtsbrüche in besetzten Gebieten.
Putin hatte sich zuletzt selbst mit Peter dem Großen verglichen und anlässlich des 350. Geburtstags des Zaren dessen Expansionspolitik als Vorbild für das eigene politische Handeln bezeichnet. Russland müsse auch heute Territorien "zurückholen und festigen", sagte der Staatschef in St. Petersburg. Vertreter der ukrainischen Regierung, etwa Präsidentenberater Mychajlo Podoljak, warfen ihm daraufhin Imperialismus und die Vorbereitung weiterer Eroberungsfeldzüge vor. Versuche, Putin zu beschwichtigen, führten nur zu weiteren Aggressionen des Kremls, schrieb er auf Twitter. Stattdessen müsse Putin militärisch geschlagen werden.
Einen schnellen Frieden sieht Kassjanow nicht kommen: Er rechne damit, dass der Krieg bis zu zwei Jahre dauern werde, sagte der Oppositionelle. Zudem gehe er davon aus, dass Putin in absehbarer Zeit von einem "Quasinachfolger" ersetzt werde, der unter Kontrolle der Geheimdienste stehe.
Diese stünden in Russland über allen anderen Instanzen, sagte Kassjanow: Das Land sei "ein KGB-System, das auf kompletter Rechtlosigkeit basiert". In den Reihen der russischen Führung rechne niemand mit einer Bestrafung. Putin stütze seine Herrschaft auf Angst und Straflosigkeit und gehe noch zynischer und brutaler vor als im Endstadium der Sowjetunion.
"Ent-Putinisierung" als Jahrzehntaufgabe
Dennoch zeigte sich der Politiker zuversichtlich, dass sein Land auch diese Phase überwinden könne. "Ich habe keinen Zweifel, dass sich die Opposition nach dieser Tragödie, deren Zeugen wir alle werden, vereinen wird", sagte Kassjanow. Russland werde den Weg "hin zum Aufbau eines demokratischen Staates" gehen, auch wenn dies insbesondere "nach diesem kriminellen Krieg" schwierig werde. Russland müsse das Vertrauen seiner "natürlichen Partner", der Staaten Europas, wiedergewinnen. Die "Ent-Putinisierung" des Landes sei jedoch ein Prozess, der ein Jahrzehnt für sich in Anspruch nehmen werde, schätzte er.
Kassjanow war von 2000 bis 2004 Ministerpräsident unter Putin und galt als liberal. Unter anderem kritisierte er 2003 die Inhaftierung des Oligarchen und Oppositionellen Michail Chodorkowski. Kurz vor seiner Wiederwahl zur zweiten Amtszeit als Präsident entließ Putin Kassjanow jedoch.
Seitdem hat sich der ehemalige Regierungschef zu einem der prominentesten Kritiker Putins entwickelt. In Russland führte er die Oppositionspartei Parnas an und galt als enger Verbündeter des 2015 ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Nach Kriegsbeginn emigrierte er nach Europa, hält seinen Aufenthaltsort jedoch geheim.
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-06/...sland-michail-kasjanow |