Philosoph Ivan Krastev zur Lage:
ZEIT ONLINE: Was muss noch passieren, außer einfach nur mehr Panzer zu kaufen?
Das größte Problem Europas sind nicht die Militärausgaben, das größte Problem ist kultureller Natur. Die Europäische Union ist nach dem Zweiten Weltkrieg als ein Friedensprojekt gestartet. Wir waren sehr erfolgreich darin, die europäische Gesellschaft zu pazifizieren und haben einen Krieg undenkbar gemacht. Jetzt verlangen wir von den Menschen, sich auf einen Krieg vorzubereiten. Das ist ein großer Bruch. Aber allein mit mehr Panzern gewinnt man keinen Krieg.
ZEIT ONLINE: Sie meinen, viele Menschen in Europa haben immer noch nicht erkannt, in welcher prekären Lage wir uns befinden?
komplett im paywallremover:
https://archive.ph/PNL8S#selection-1515.101-1515.113Krastev: In Teilen Osteuropas wahrscheinlich schon, in Deutschland und Frankreich eher nicht. Europa hat zwar gemeinsame Träume, die Albträume sind aber meist nationaler Natur und in der jeweiligen Geschichte des Landes verwurzelt. In Deutschland hat fast jeder Vierte mit seiner Stimme für die AfD und das BSW quasi prorussisch gewählt. Und einer aktuellen Umfrage zufolge sind nur 17 Prozent der Deutschen bereit, das Land im Kriegsfall mit der Waffe zu verteidigen.
ZEIT ONLINE: Was bedeutet all das für den wahrscheinlich nächsten Kanzler Merz?
Krastev: Deutschland ist einer der größten Verlierer der vergangenen Jahre, weil es der größte Gewinner der Nachkriegszeit war. Das deutsche Wirtschaftsmodell steckt in der Krise, die Straßen sind kaputt, die Schienen marode. Der Handelskrieg trifft die deutsche Exportindustrie besonders hart. Merz muss dem Land neues Selbstbewusstsein geben, die Wirtschaft transformieren und das Militär aufrüsten. Das ist keine leichte Aufgabe. Donald Trump könnte dabei aber unterstützend wirken.
ZEIT ONLINE: Wie das?
Krastev: Trumps harter Nationalismus produziert auf der Gegenseite ebenfalls Nationalismus. Das sieht man sehr stark in Kanada, aber auch in Deutschland. Die liberalen Parteien der Mitte sind zu europäischen Souveränisten geworden. Die Mehrheit im Bundestag für das Sondervermögen hat gezeigt: Man muss sich nicht in jedem Punkt einig sein, welche Maßnahmen notwendig sind, wenn allen klar ist: Es kann in keinem Fall so bleiben, wie es war. Eine ähnliche Entwicklung sieht man auch in anderen EU-Ländern.
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it's the culture, stupid