IEGEL ONLINE: Frau Fischer, die Nato geht davon aus, dass tausend Soldaten in der Ukraine kämpfen. Welche Strategie verfolgt Russlands Präsident Wladimir Putin?
Fischer: Putins Handeln ist weniger strategisch als taktisch. Die russische Führung hat sich sowohl international als auch innenpolitisch in eine Ecke manövriert, aus der sie jetzt nicht mehr herauskommt. Putin kann sich eine militärische Niederlage der Separatisten vor allem innenpolitisch nicht leisten. Die Kampfhandlungen haben sich aber nicht im Sinne der Separatisten entwickelt, also muss er eingreifen. Letztendlich geht es um das Markieren von Territorium. Und hierbei geht Putin teilweise unkalkulierbare Risiken ein.
SPIEGEL ONLINE: Es heißt, dass es sich bei den Soldaten um "Freizeitkämpfer" handelt. Ist es vorstellbar, dass sie tatsächlich auf eigene Faust handeln?
Zur Person
SWP Sabine Fischer, von 2007 bis 2012 Senior Research Fellow am European Union Institute for Security Studies (EUISS) in Paris, forscht seit August 2012 als Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien der SWP, die sie seit Oktober 2012 leitet. Sie arbeitet vor allem über die Themen Russische Außen- und Sicherheitspolitik, EU-Russland- Beziehungen, ungelöste Konflikte in der Östlichen Nachbarschaft der EU und regionale Beziehungen in Osteuropa und Eurasien. Fischer: Das ist vollkommener Unsinn. Wenn diese Soldaten wirklich eigenständig handeln würden, bedeutete das ja, dass Russland keine Kontrolle mehr über sein Militär hat. Und das wäre eine Katastrophe. Tausend Soldaten, die sich Urlaub nehmen, um in einen Krieg in einem Nachbarland einzugreifen? Das ist schlicht und ergreifend absurd. SPIEGEL ONLINE: Wie weit wird Putin jetzt gehen? Ist die ganze Ukraine in Gefahr? Fischer: Es geht hier nicht um Geografie. Eine Besetzung oder Einverleibung der Ostukraine ist aus meiner Sicht nie Teil des russischen Plans gewesen. Wenn man überhaupt von einem Plan sprechen kann. Es geht um die Wahrung von Kontrolle. Russland lässt sich dabei immer tiefer hineingleiten in den Konflikt. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass die eskalierte Situation jetzt genutzt wird, um eine Landverbindung mit der Krim herzustellen.
SPIEGEL ONLINE: Welche Möglichkeiten hat der Westen noch, um auf die russische Intervention zu reagieren?
Fischer: Das Einzige, was der Westen tun kann, ist, die bisherige Linie weiterzuverfolgen. Natürlich muss jetzt die Gangart verschärft werden.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen: weitere Sanktionen.
Fischer: Ja. Wenn Russland in den nächsten Tagen nicht zur spürbaren Deeskalation beiträgt, muss es weitere Sanktionen geben. Der Westen muss politischen Druck ausüben. Er muss aber auch weiter verhandeln. Ein militärisches Eingreifen ist keine Option. Denkbar wäre allerdings, dass der Westen dabei hilft, die ukrainische Grenze zu schützen.
SPIEGEL ONLINE: Wie soll das gehen, ohne Militär zu schicken?
Fischer: Indem man, wie teilweise auch schon angedacht, auf ukrainischer Seite Kapazitäten aufbaut, um zu einer Sicherung dieser Grenze beizutragen.
SPIEGEL ONLINE: Mit Waffenlieferungen?
Fischer: Da wäre ich vorsichtig. Es geht eher um die Verstärkung der OSZE-Beobachtermission, die ja jetzt schon in dem Sektor arbeitet. Auch die EU bringt eine zivile Mission zur Unterstützung von Sicherheitssektorreformen in der Ukraine auf den Weg. Etwas Ähnliches könnte man für die Grenztruppen überlegen.
SPIEGEL ONLINE: Am Mittwoch hat Putin dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko noch die Hand geschüttelt und versichert "alles für den Friedensprozess zu tun", dann kam der Einmarsch. Wie ist diese Janusköpfigkeit zu verstehen?
Fischer: Die ukrainische und die russische Position für einen Waffenstillstand sind noch immer unvereinbar. Die Ukraine verlangt von Russland die Schließung der Grenzen und die Einstellung von Russlands Unterstützung der Separatisten vor Eintreten eines Waffenstillstands. Aus russischer Perspektive stellt sich das genau umgekehrt dar. Russland verlangt von der Ukraine erst einen Waffenstillstand sowie das Eingehen auf politische Forderungen der Separatisten und Russlands, bevor es bereit ist, die Grenze zu schließen und Unterstützungsmaßnahmen einzustellen.
SPIEGEL ONLINE: Putin hat die Separatisten für ihren Einsatz gelobt. Er spricht von "wichtigen Erfolgen der Landwehr". Die Separatisten würden Kiews Militäroperation unterbinden, die "eine tödliche Gefahr für die Zivilbevölkerung darstelle". Was bezweckt er mit dieser Ansprache?
Fischer: Das richtet sich auch ganz stark an die russische Bevölkerung. Putin stellt sich als gemäßigter Staatsmann dar, der an der Lösung des Konflikts und dem Schutz der Zivilbevölkerung interessiert ist. Es passt in das Bild, das in Russland von dem Konflikt herrscht: Der Kampf der russischsprachigen Bevölkerungsteile in der Ostukraine in Selbstverteidigung gegen ein extremistisches Regime in Kiew.
SPIEGEL ONLINE: Laut einer Umfrage ist die überwältigende Mehrheit der Russen gegen einen Einmarsch in die Ukraine. Was bedeutet das für Putin?
Fischer: Daraus kann ein erhebliches Dilemma entstehen. Wenn er einerseits eine militärische Niederlage der Separatisten hinnimmt, verliert er innenpolitisch das Gesicht. Gleichzeitig ist die Bevölkerung gegen eine Invasion, die Meldungen über tote und verletzte russische Soldaten häufen sich jedoch in den russischen Medien. Dies ist eine Gefahr für Putin. Im Moment sehe ich aber nicht, wie er das Dilemma lösen will. Die russische Führung hat sich durch die nationalistische und patriotische Rhetorik und ihre Herangehensweise an diesen Konflikt in die Falle manövriert, aus der sie jetzt nur noch mit den allergrößten Schwierigkeiten herauskommt. Wenn überhaupt.
SPIEGEL ONLINE: Es ist also nicht zu erwarten, dass Putin irgendwann zugibt, in der Ukraine zu operieren?
Fischer: Nein, das ist nicht absehbar |