Die letzten Kilometer eines Besessenen
Vor vierzig Jahren starb Tom Simpson am Mont Ventoux. Seine Familie pflegt den Leidensmythos. Auf den Spuren der Doping-Tragödie
Von michael eder
Bedoin. Vierzig Jahre sind keine Zeit. Nicht für einen Mythos. Aber auch Mythen wollen gepflegt sein, und Joanne Simpson ist eine Expertin darin. Die Tochter von Tom Simpson, dem englischen Radhelden, der am 13. Juli 1967 am Mont Ventoux starb, ist zum vierzigsten Jahrestag der Tragödie nach Bedoin gekommen, in den Ort, in dem "L'impitoyable" beginnt, "die Erbarmungslose", eine Straße, die einundzwanzig Kilometer bergauf führt, von 300 auf 1900 Meter Höhe, hinauf zum Mont Ventoux. Auch Joannes Mutter Helen ist gekommen, Simpsons Frau. Ihre Schwestern Jane und Daniela und ihr Stiefvater Barry sind da und zweihundert englische Radsportfans. Um neun Uhr steigen sie in Bedoin auf ihre Räder und fahren los, mit uns auf den Spuren von Tom Simpson.
Cognac und Brandy
in der Trinkflasche
Am Kreisel geht es rechts, die ersten vier Kilometer sind leicht, hinter Les Bruns beginnt die Tortur. Vor vierzig Jahren hielt Simpson hier noch einmal an, um den Cognac, den er in Bedoin besorgt hatte, in die Trinkflasche zu füllen, schon zuvor auf der Etappe hatte er Brandy getrunken. Fünfeinhalb Stunden nach dem Etappenstart in Marseille fuhr er in die furchterregende Steigung hinein. Vor Beginn der Tour hatte er drei Gipfel ausgesucht, auf denen er angreifen wollte: Galibier, Puy-de-Dome, Mont Ventoux.
Die Galibier-Etappe drei Tage zuvor war ein Desaster. Simpson hatte Magenkrämpfe, war auf den siebten Platz der Gesamtwertung zurückgefallen. Nun musste er als Erster über den Ventoux. Er wollte beweisen, dass er die Tour de France gewinnen konnte, er wollte einen noch besseren Vertrag. Vierzig Jahre später sind wir bei Kilometer sechs auf 630 Meter Höhe, der erste Engländer ist in Schwierigkeiten, bleibt stehen, trinkt, schaut verzweifelt, es sind noch 15 Kilometer bis zum Gipfel.
Auch Simpson wird Angst gehabt haben. Noch immer war er krank. Vielleicht hat er jetzt in die Trikottasche gegriffen und das zweite Röhrchen mit dem Amphetamin Tonedron geleert, dann wird die Furcht vor dem Berg kleiner geworden sein, die Zuversicht größer, dann hat er attackiert, schon hier unten, er wollte die Entscheidung, doch der Spanier Jiménez kletterte ihm davon.
Kilometer 7,5: 753 Meter hoch, zehn Prozent Steigung. Die Schweißtropfen sammeln sich am Schild der Mütze, schaukeln von links nach rechts und fallen zu Boden. Immer mehr Engländer ersinnen Ausreden, Sonnenbrille putzen, pinkeln, nur um stehenbleiben zu können. Am Straßenrand läuft ein Mann, ein Ventoux-Jogger, es dauert lange, bis wir ihn überholt haben.
"Gebt mir
neun Tabletten"
Simpson, der Prototyp des modernen Rennfahrers, hatte ein medizinisches Netzwerk geknüpft: Dr. Castro, sein Vereinsarzt aus Gent, Dr. Vandenweghe, der Vorsitzende seines Fan-Klubs - ihnen vertraute er, fragte nicht, welche "Stärkungsmittel" sie ihm verabreichten. "Wenn zehn Tabletten mich umbringen", sagte er, "dann gebt mir neun." Bis 1965 gab es keine Verbote, jeder konnte schlucken und spritzen, was er wollte. Erst dann wurde Doping unter Strafe gestellt, doch Stars wie Anquetil oder Simpson mussten keine Sanktionen fürchten. Simpson hat Amphetamine genommen, es gibt Hinweise auf Steroide, er hat Strychnin benutzt und Kokainsalbe. Er war bereit, alles zu versuchen, was ihn schneller machte, er vertrat "die Philosophie des totalen Krieges", wie William Fotheringham in seiner Simpson-Biographie "Put me back on my bike" (Covadonga Verlag) schreibt. Morphium, Palfium - es gab viele Mittel, mit denen die Fahrer experimentierten, und Simpson wird nicht viel ausgelassen haben. Er hatte den besten Mechaniker, den besten Soigneur, er hatte Leibärzte, er hatte die teuersten Amphetamine, er war auf der Jagd nach jedem Vorteil.
Kilometer 10,5: Pralle Sonne, zum ersten Mal sehen wir den Gipfel, das Geröllfeld, den Turm - 200 Meter, dann schiebt sich der Wald wie ein Vorhang dazwischen. Eine Rechtskurve, die einzige enge Biegung bis zum Gipfel, außen halbwegs erträglich, innen irrsinnig steil. Simpson wird innen gefahren sein, er hatte keinen Zentimeter zu verschenken.
Er hatte es geschafft, doch er wollte mehr
Er war ein Aufsteiger, ein Hinaufkletterer, ein Bergarbeitersohn aus Harworth, der in Gent in Belgien heimisch geworden war, der 1962 bei der Tour in Gelb fuhr, der 1965 Weltmeister wurde, der die Flandern-Rundfahrt, Mailand-San Remo und die Lombardei-Rundfahrt gewann, der ein Ferienhaus in Italien besaß, der Jaguar fuhr und Aston Martin, der mit Popstars verkehrte. Er war ein ehrgeiziger Geschäftsmann, der sich professionell vermarktete, er war ein Mann, der es geschafft hatte und doch mehr wollte: Er wollte ganz nach oben, er wollte auf den Gipfel, und dafür brauchte er einen Sieg bei dieser Tour.
Kilometer zwölf: Wir haben den Rhythmus gefunden, es ist, als ob sich der Körper mit den Strapazen abgefunden hätte. Bei Simpson muss das anders gewesen sein. Er musste schnell sein, er durfte nicht zu viel auf Jiménez verlieren, er spürte die Verfolger im Nacken. Vielleicht hat er an dieser Stelle noch einmal in die Trikottasche gegriffen. Doch die Amphetamine wirkten nicht mehr, die Euphorie war der Dumpfheit gewichen. "Ein guter Fahrer", das war Simpsons Grundsatz, "muss sich in Grund und Boden fahren können."
Kilometer vierzehn: Das letzte Foto, das Simpson lebend zeigt, muss ungefähr an dieser Stelle aufgenommen worden sein, es zeigt einen verlorenen Menschen, seine Augen sind gebrochen. Dann, am Chalet Reynard, zeichnet die Straße einen Bogen nach links und führt hinaus aus dem Wald in die Steinwüste. Als Simpson um diese Kurve bog, an einem der heißesten Tage des Jahres 1967, bei über 40 Grad, muss er sich vorgekommen ein, als wäre er in einen Backofen gefahren und jemand hätte hinter ihm die Klappe zugemacht. An dieser Stelle überholten ihn fünf Fahrer, der Franzose Aimar erkannte seinen erbärmlichen Zustand, bot ihm Wasser an, doch Simpson, schon mehr tot als lebendig, versuchte, ihm wegzufahren. Er griff an, ein letztes Mal.
Simpson konnte den Verstand ausschalten
Er konnte nicht mehr denken, doch noch immer trieb ihn dieser Impuls voran: Wenn er aufblickte, konnte er den Gipfel sehen, es waren nur noch sechs Kilometer, der Gipfel war die Rettung, danach ging es bergab, er würde hinuntersausen nach Carpentras, dort würden ihn die Ärzte wieder zusammenflicken, und morgen wäre ein neuer Tag. Er musste zum Gipfel, dort hinauf, dann wäre alles überstanden. Simpson schwitzte nicht mehr, seine Haut war trocken, der Wasserhaushalt zusammengebrochen. Warum hat er nicht aufgegeben? Warum hat er seinen Körper in den Tod gefahren? Simpson war ein Wettkämpfer, einer, der mit leerem Tank fahren konnte, nur mit dem Willen. Er konnte den Verstand ausknipsen, alle Sicherungen ausschalten, auch ohne Drogen, und die Amphetamine schoben die Grenze weiter hinaus. Er ist andere Distanzen gefahren als die Profis heute, ein Vierhundert-Kilometer-Rennen konnte er im 42er-Schnitt fahren. 1963 hat er die Fernfahrt Bordeaux-Paris gewonnen, Streckenlänge: 555 Kilometer. Und nun waren es nur noch drei Kilometer bis zum Gipfel. Drei Kilometer, die wir mit Joanne Simpson, seiner Tochter, hinaufstrampeln. Ein Freund schiebt sie, wenn es zu steil wird, der Turm kommt näher.
Der Gipfel zog ihn nicht mehr an
Simpson hat ihn nicht mehr wahrgenommen an dieser Stelle, es kam der Schwindel, die Koordination versagte, er verlor die Orientierung, die Richtung, der Gipfel zog ihn nicht mehr an, die Rettung verschwamm, es muss ihm übel geworden sein, der Kopf dröhnte, dann kippte er zur Seite. Mechaniker und Teammanager sprangen hinzu, schoben ihn an. Fünfhundert Meter schaffte er noch, dann fiel er wieder um, rund einen Kilometer unterhalb des Gipfels. Kein Lebenszeichen mehr. Die Helfer mussten seine Finger mit Gewalt vom Lenker lösen, sie versuchten, ihm Luft in die Lungen zu blasen, Tourarzt Dr. Dumas war mit einer Sauerstoffmaske zur Stelle, doch auch er konnte Simpson nicht mehr retten. Sie flogen ihn mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus. Um 18.30 Uhr wurde im Fahrerlager in Carpentras Simpsons Tod bekanntgegeben. Dr. Dumas verweigerte die Freigabe der Leiche, er hatte in Simpsons Trikottasche drei Röhrchen gefunden, eines noch halb voll mit Tonedron. Die Polizei durchsuchte die Unterkunft der britischen Mannschaft und fand weitere Doping-Mittel.
Dort, wo Simpson starb, stehen heute, vierzig Jahre später, viele Engländer, Belgier, Holländer, Franzosen, plaudern und fotografieren. Joanne, die Tochter, eröffnet die Treppe, die zum Gedenkstein für ihren Vater führt. Sein Mythos wird die Jahre überleben. Es ist der Leidensmythos eines Mannes, der sich mit Leib und Seele dem Profisport verschrieb, des Aufsteigers und Hinaufkletterers, der sich knapp unterhalb des Gipfels selbst in Grund und Boden fuhr.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.07.2007, Nr. 28 / Seite 13
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MfG kiiwii
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