Gespräch mit der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko Wir witzeln über das Ministerium der tiefen Besorgnis Warum Russland abermals Potemkinsche Dörfer errichtet und der Kaukasus und das Baltikum in Gefahr sind
Frau Sabuschko, Putin gibt sich zurzeit sehr entgegenkommend. Wird der Waffenstillstand in der Ostukraine halten? Ich habe gemischte Gefühle, wie die meisten Ukrainer. Jeder interpretiert das Abkommen zwischen Putin und Poroschenko auf seine Weise, und das war Putins Absicht. Lassen Sie sich nicht täuschen: Er will immer noch die halbe Ukraine, mit einem Korridor von Odesssa in die Republik Moldau, um einen brennenden Gürtel an der Grenze zur Europäischen Union zu schaffen. Ich weiß nicht, was er als Nächstes vorhat. Aber ich denke, dass er nicht in der Ukraine haltmachen wird. Auch der Kaukasus und das Baltikum sind in Gefahr. Obwohl die baltischen Republiken in der Nato sind? Putin testet aus, wie weit er gehen kann. Stalin hätte genauso gehandelt. 2008 öffnete der Georgien-Krieg Putin das Tor zur Ukraine. Wenn die EU jetzt die Invasion der Ukraine als inneren „ukrainischen Konflikt“ akzeptiert, dann stehen die baltischen Republiken als Nächstes vor der Tür. Auch gegen sie wird die Aggression seit langem vorbereitet. Es ist dasselbe Szenarium der „großen Revanche“. Das ist übrigens auch der Grund, warum Putin all diese rechtsextremen Parteien im Westen braucht, die auf seiner Payroll stehen. Er nutzt ihre Sehnsucht nach historischer Revanche. In jeder Gesellschaft schlummert ein Virus der Aggression, überall gibt es historische Traumata. Russland ist in den Händen eines Geheimdienstes, das wird im Westen unterschätzt. Dieser Geheimdienst beherrscht die Technologie der Entfesselung eines Krieges. In Russland ist die Hysterisierung der Massen schon lange im Gange. Erst erzeugt man Angst und Unsicherheit, dann benennt man den Feind, vor dem der Zar das Volk schützt. Da die Russen wirklich Angst haben, glauben sie, was immer man ihnen einredet. Ein Dialog hat also keine Aussicht auf Erfolg? Jedes Gespräch kann nur mit der Forderung nach dem Abzug der russischen Soldaten beginnen. Die Gangster sind in unser Haus eingedrungen und behaupten, dass es mindestens zur Hälfte ihnen gehört, wenn nicht gleich das ganze Haus und vielleicht sogar der ganze Wohnblock – mit Budapest, Warschau und so weiter. Sie brennen nieder, sie töten, sie schießen auf Menschen. Und da sagt uns die sogenannte „Realpolitik“, dass wir mit ihnen reden müssen. Worüber denn? Der Westen soll aufhören, die russischen Offiziere, die sich auf ukrainischem Territorium aufhalten, „ukrainische Rebellen“ zu nennen. Man wusste, dass Girkin und Borodai FSB-Offiziere sind, aber man nannte sie trotzdem ukrainische Rebellen. Die Rede ist von „prorussischen Rebellen“. Zuerst hieß es „ukrainische Rebellen“, seit dem Absturz der malaysischen Passagiermaschine heißt es wenigstens „pro-russische Rebellen“. Aber sie sind nicht „prorussische“ Ukrainer, sondern russische Staatsbürger, russische Offiziere auf ukrainischem Territorium. Da darf man sich keine Zweideutigkeiten erlauben. Dieser ganze Dialog-Diskurs, der von Deutschland propagiert wird, ist von der Furcht gekennzeichnet, die Dinge mit ihrem Namen zu benennen. Als Schriftstellerin bin ich empfindlich, was den Missbrauch von Sprache angeht. Und Kooperation, gegenseitig vorteilhafter Handel, Dialog, das sind Phrasen. Es geht um Macht, die Regeln des Völkerrechts spielen keine Rolle. Putin erpresst den Westen mit Öl und Gas, und dann überlässt er ihm die Entscheidung, ob ihm das Leben der Ukrainer wirklich so viel mehr wert ist als etwa die Bequemlichkeit der Deutschen. Es ist noch kein Jahr her, dass sich prominente Vertreter der EU in Kiew auf die Seite des „Euromajdan“ stellten . . . Ja, das war auch wichtig, weil es uns das Gefühl gab, nicht allein zu sein. Aber leider hat sich das als eine Illusion herausgestellt. Als am 22. Januar die ersten beiden jungen Männer auf dem Majdan von Heckenschützen erschossen wurden, haben wir alle gewartet, was Frau Merkel nun tun würde. Am Nachmittag kam die Nachricht, dass sie keinen Grund für Sanktionen sehe. Das war der Wendepunkt. Zuvor hatte es noch geheißen, dass einige Mitglieder der Regierungsparteien zurücktreten würden. Danach war davon nicht mehr die Rede. Einer, der am Morgen schon seinen Rücktritt angekündigt hatte, sagte nun, er sei missverstanden worden. Das ganze Land hat das miterlebt. Es gibt seither unzählige Witze um die Phrase von der „tiefen Besorgnis“, etwa den Vorschlag, ein „Ministerium der tiefen Besorgnis“ einzurichten. Einen Monat später, am 22. Februar, handelten die Außenminister Steinmeier, Fabius und Sikorski mit Janukowitsch und der Opposition ein Abkommen aus, das eine geregelte Machtübergabe sicherstellen sollte. Es scheiterte am Widerstand der Demonstranten auf dem Majdan. Um das zu erklären, muss ich etwas ausholen. In Kiew geschahen damals die fürchterlichsten Dinge. Tausende wurden verhaftet und unter absurden Vorwänden angeklagt. Geheimnisvolle Männer tauchten auf, die hinter den Rücken der jungen Milizionäre zu schießen begannen. Eine Wolke des Wahnsinns hing über Kiew. In der Nacht gingen wir auf den Majdan, weil er gut beleuchtet war und wir uns sicher fühlten unter Zehntausenden normalen Leuten. Wir waren das Volk, uns konnte nichts geschehen, auf dem Majdan behauptete sich die Vernunft gegen den Wahnsinn. Und dann, zwischen dem 18. und dem 20. Februar, wurden genau dort 108 Leute an einem Tag auf einem Platz erschossen, alles unbewaffnete Zivilisten. Mitten in der Stadt fand eine Menschenjagd statt. Auf einen Freund meines Mannes wurde geschossen, er wurde in ein überfülltes Spital eingeliefert, das von Freiwilligen bewacht werden musste, weil die Polizei die Order hatte, jeden zu verhaften, der mit Schusswunden vom Majdan kam. Es war der reinste Horror. Die Armee begann, Kiew einzukreisen. Der Majdan sollte zerstört, das Zentrum der Hauptstadt in ein Grosnyj verwandelt werden. Und da kamen die drei Außenminister, aus Deutschland, Frankreich und Polen, um mit Janukowitsch zu diskutieren. Das hat uns nicht interessiert. Die ganze Stadt trauerte, 108 junge Menschen mussten bestattet werden, und die drei unterhielten sich mit Janukowitsch. Sie meinen, dass sich die drei Außenminister gar nicht darüber im Klaren waren, was in Kiew vor sich ging? Es ist leicht, den Wirklichkeitssinn zu verlieren, wenn man es mit einem Land zu tun hat, über das man wenig weiß, das einen nicht viel kümmert und das man auch nicht ernst nimmt. Politiker sprechen ihre eigene Sprache, sie leben nach ihren eigenen Regeln. Als Putin 2008 den europäischen Politikern in Bukarest sagte, dass die Ukraine gar kein echter Staat sei, stimmten ihm alle zu, wirklich alle. Damals wurde der Ukraine und Georgien die Nato-Mitgliedschaft verweigert. Es herrschte ein stillschweigendes Einverständnis darüber, dass die beiden Länder zur russischen Einflusssphäre gehörten, weil Russland immer schon ein Imperium war. Das wird auch mit der besonderen historischen und kulturellen Nähe zwischen Russen und Ukrainern begründet. Steinmeier argumentierte so am 8. Mai auf der Konferenz der europäischen Schriftsteller in Berlin. Ich halte das für Unsinn, was ich ihm auch sagte, so höflich wie möglich. Gefreut hat ihn das nicht. Er hatte Taras Schewtschenko erwähnt, der ukrainisch schrieb, und Nikolai Gogol, der ebenfalls in der Ukraine geboren wurde, aber russisch schrieb, und daraus leitete er ab, dass Putin in gewisser Weise recht habe und man mit ihm reden müsse. Was bitte hat Gogol, von dem Steinmeier gewiss keine Ahnung hat, mit den Verbrechen zu tun, die bei uns begangen wurden? Das hat nichts mit Sprache und Literatur zu tun, außer man stellt sich auf die Seite von Putin und seinen Leuten, die behaupten, dass sie das Recht haben, in jedes Land einzufallen, in dem Menschen Russisch sprechen, auch dann, wenn sich ihnen diese mit allen Mitteln widersetzen. Gerade die Russisch sprechenden Ukrainer fühlen sich besonders verletzt, weil sie sich als Vorwand für die Invasion benutzt fühlen. Die antiukrainische Propaganda ist nicht zuletzt die Fortsetzung der alten sowjetischen Propaganda, von der sie sich nicht in ihrem Inhalt, sondern nur aufgrund der Technologie der Kommunikation und der Größenordnung ihres induzierten Irreseins unterscheidet: Potemkinsche Dörfer in den Zeiten des Fernsehens und des Internets. Eine ganze Industrie der Fälschungen ist da am Werk, in die enorme Gelder aus den Erdöl- und Gaseinnahmen investiert werden. Russland ist devastiert, außerhalb der großen Städte leben die Menschen in Armut, das Land hat die höchste Selbstmordrate der Welt, und wohin fließt das Geld? In die Seifenopern, die die russische Armee und den KGB verherrlichen. Es ist ein Orwell-Szenarium, und zugleich eines von Huxley, eine konstante Reality Show. Ein Horrorfilm, in dem die Mörder Clownsmasken tragen. Oksana Sabuschko, geboren 1960 in der nordwestlichen Stadt Luzk, zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellern der Ukraine. In ihren Büchern beschäftigt sie sich immer wieder mit der ukrainischen Identität. Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Roman „Museum der vergessenen Geheimnisse“. Die Fragen stellte Karl-Peter Schwarz . ...aus der heutgen FAZ-Druckausgabe, Seite 12 |