Bremen. Der Zeitplan für die Energiewende kommt immer mehr unter Druck. Der Netzbetreiber Tennet und der Energieversorger RWE haben angekündigt, wegen der ungünstigen Rahmenbedingungen vorerst alle weiteren Ausbauvorhaben zu stoppen. Sie wollen erst weitermachen, wenn von der Politik verlässliche Vorgaben erlassen werden.
Warnungen vor Verzögerungen bei der Energiewende hatte es schon mehrfach gegeben, nun aber ziehen zwei Schwergewichte im Offshore-Geschäft erstmals Konsequenzen. Der Netzbetreiber Tennet, zuständig für den Stromanschluss aller auf der Nordsee geplanten Windparks, will nach eigenen Angaben keine neuen Bauaufträge mehr vergeben, sondern zunächst nur noch die bestehenden neun Projekte weiterverfolgen.
Als Grund nennt eine Unternehmenssprecherin, dass mit einem Investitionsvolumen von bislang 5,5 Milliarden Euro eine finanzielle Kapazitätsgrenze erreicht sei. "Mehr kann ein einzelnes Unternehmen nicht schultern." Dazu fehlten angesichts einer ständig wachsenden Zahl von Anschlüssen ausreichende Produktionskapazitäten, Fachkräfte und Bauressourcen.
Betroffen ist auch der erste deutsche Offshore-Windpark des Energiekonzerns RWE - er verspätet sich um ein ganzes Jahr, weil der Anschluss ans Stromnetz fehlt. Ursprünglich hatte RWE in diesem Frühjahr von Bremerhaven aus mit den Arbeiten beginnen wollen. Hans Bünting, Finanzchef der Ökostromsparte RWE-Innogy, schätzt den Schaden auf rund 100 Millionen Euro, eine Schadenersatzklage wird nach seinen Worten derzeit geprüft. "Unser Vertrauen in die Verlässlichkeit von Zusagen ist erschüttert", sagt Bünting dieser Zeitung. Es fehlten bei wichtigen Fragen die nötige Rechtssicherheit sowie belastbare Regelungen für den Fall eines verspäteten Netzanschlusses. "Bevor es diese nicht gibt, werden wir keine weiteren Bauentscheidungen treffen."
Der Vorsitzende des Branchennetzwerks "Erneuerbare Energien Hamburg" (EEHH), Michael Westhagemann, stuft diese Nachrichten als höchst alarmierend ein: "Jetzt ist die Energiewende absolut ernsthaft gefährdet", erklärt der Manager. Westhagemann vertritt 150 Unternehmen der Energiebranche. "Alles gerät ins Stocken", sagt Westhagemann, der auch Chef des Industrieverbandes Hamburg und Norddeutschland-Chef von Siemens ist.
Nachdem sich zuletzt mehrere Top-Manager aus der Branche über die Verzögerungen bei der Energiewende öffentlich beklagt hatten, erhöhen sie nun den Druck auf die Politik. Nach Informationen dieser Zeitung gab es in der vergangenen Woche ein Krisentreffen der vier großen Netzbetreiber, der Deutschen Netzagentur und eines großen Herstellers von Offshore-Windkraftanlagen. Die Runde hat sich demnach darauf verständigt, bei der Bundesregierung ein Beschleunigungsgesetz für die Energiewende zu fordern.
Zusätzlicher Druck kommt aus der Industrie, die um die Funktionsfähigkeit des Stromnetzes fürchtet. "Es gibt hohe Instabilitäten im Netz", sagt Westhagemann. Nach Informationen dieser Zeitung werden bereits jetzt energieintensive Unternehmen vom Netz genommen. So erging es kürzlich einem Elektrostahlwerk des weltweit größten Stahlherstellers ArcelorMittal in Hamburg. Nach Angaben der Deutschen Energie-Agentur (Dena) werden bis 2020 bis zu 4500 Kilometer neue Stromleitungen gebraucht, um künftig große Mengen an Windstrom aus dem Norden zu den Industriezentren im Süden zu leiten. Gebaut seien aber erst ganze 120 Kilometer.