Aufstand gegen die eigene Sklerose Leitartikel von Thomas Kielinger
Der Unmut über die Regierung Schröder hat einen Grad erreicht, dass man schon wieder Mitleid empfinden könnte für den Underdog, den Bundeskanzler. Entlasten würde ihn das freilich nicht. Denn dass der erste Mann der Politik, dem wortsinnhaft die Macht im Lande zusteht, überhaupt zum Ziel christlichen Bedauerns werden kann, als der von einer Überzahl gejagte Underdog, dokumentiert erst recht die Schieflage der deutschen Verhältnisse. So wie absolute Macht absolut korrumpiert, wie Lord Acton einst bündig formulierte, so korrumpiert auch absolute Ohnmacht absolut. Dabei ist nicht entscheidend, ob sie auf Unfähigkeit beruht oder auf Behinderung durch übermächtige Interessengruppen. Ohnmacht ist Ohnmacht, und wie diese Phase der Zeitgeschichte zu bestehen sei: das ist die alles überragende Frage.
Wie generös doch herrschaftliches Unvermögen vor 200 und mehr Jahren toleriert wurde. Ein Zyniker wie Alexander Pope schrieb vom „divine right of kings to govern wrong“, vom göttlichen Recht der Könige, falsch zu regieren. Mit dieser Nachsicht ist es vorbei. Der moderne Souverän, der Wahlbürger von heute, gestattet keinen solchen Diskont. Sagten wir Souverän? Natürlich – der Kanzler ist ja gar nicht der Herrscher, sondern nur ein von Volkes Gunst Abhängiger. Ergo: Indem wir ihn beschimpfen und mit Spott überziehen, beschimpfen und bespotten wir uns selber ob der Entscheidung vom 22. September, die offenbar eine Fehlentscheidung war, gemessen an dem Pegel, den die Wut des Souveräns erreicht hat. Popes Diktum gilt ungebrochen: Das göttliche Recht, falsch zu regieren, kehrt heute zurück als göttliches Recht auf Dummheit, falsche Wahlentscheidungen zu treffen. In den frühen Jahren der Nachkriegszeit, als wir fleißig das Drehbuch Demokratie einstudierten, war uns diese Dialektik noch weithin geläufig. Ein Werbestempel der deutschen Post aus den fünfziger Jahren fasste es, gereimt, so: „Kritik am Staate steht dir zu. Doch denk daran: Der Staat bist du.“ L’état c’est moi, in der Tat. Geändert hat sich nur die Figur des Herrschers – vom Sonnenkönig zum demokratischen Souverän.
Und weil das so ist, gehen Vokabeln wie „Wahllüge“ am Thema vorbei, als Fluchtwege für den Souverän, sich aus seiner Selbstbestimmung zu stehlen. Leben wir nicht in einer vollständig durchleuchteten Informationsgesellschaft, wo tausend Quellen der Auskunft und des Wissens sprudeln, uns aufzuklären? Waren wir nicht lange vor dem 22. September 2002 bis zum Rand gefüllt mit Kenntnissen über den prekären Zustand unserer unreformierten Sozialsysteme? So aufgeklärt geradezu, dass es uns, um mit Kant zu sprechen, hätte leicht fallen müssen, uns unseres Verstandes „ohne Leitung eines anderen zu bedienen“?
Es ist höchste Zeit, auf den wunden Punkt im Zentrum der demokratischen Kultur zu schauen, auf den Demos – das Volk. Ihm haben Regierungen um Regierungen die Füße geküsst, ihm geschmeichelt mit immer neuen (und immer hohleren) Versprechungen. Das Wahlbürgertum steht geradezu als letzter absolutistischer Monarch der Geschichte da, in seiner Machtfülle (sprich: seinen Ansprüchen) Furcht erregend für alle Volksvertreter oder solche, die es werden wollen. Es gibt keine „Wahllügen“ – sie sind nichts als das Echo der großen Selbsttäuschung des Souveräns: Dass der Staat dazu da sei, ihm die Daseinsvorsorge abzunehmen. Und dass alle Politik dies fortzuschreiben habe.
Natürlich trägt auch die politische Klasse ihre Schuld an diesem Pakt, lässt sich von Mal zu Mal wählen auf der Grundlage eines unhaltbaren Gesellschaftsvertrages. Aber Arnulf Baring überspringt mit seinem aufbegehrenden „Aux armes!“ die Mitverantwortung derer, die er da zu den Waffen ruft. Ehe er die Barrikaden des Protestes besteigt, müsste der Souverän erst einmal seinen eigenen Machtmissbrauch bedenken. Solange es axiomatisch ist in Deutschland, dass nur der gewählt werden kann, der dem Demos in seiner Selbsttäuschung stützt, so lange sollte niemand das Wort von der Politikverdrossenheit in dem Mund nehmen.
Aufstand, ja. Aber bitte gegen die Sklerose in den eigenen Köpfen, die Verweigerung der Wirklichkeit, das Beharren auf Ansprüchen, die der eigenen Lebensgestaltung geradezu den Schneid abkaufen und die staatlichen Systeme in den Ruin treiben. Da steht der Souveränn, das Volk, vor seiner Gretchenfrage. L’état c’est moi. In der Tat.
Artikel erschienen am 29. Nov 2002 |