Aus der aktuellen NOZ Antislawismus "Böser trinkender Russe": Ein blinder Fleck in der Rassismus-Debatte
Von Burkhard Ewert, Ankea Janßen Ein Russe säuft und ist aggressiv: Das Klischee macht es russischen Männern nicht leicht.
Berlin/Wien. Antislawismus ist in Deutschland weit verbreitet, wird aber kaum thematisiert. Betroffene haben es schwer, sich im aktuellen Rassismus-Diskurs einen Platz zu verschaffen. Diskriminierung gehört für sie zum Alltag.
Wenn Sergej Prokopkin als Jugendlicher eine Party besuchte, aß er davor möglichst viele fettige Sachen. Er wollte damit für eine gute Grundlage sorgen, um am Abend viel Alkohol trinken zu können. Warum? Er wollte das Klischee erfüllen, die "Deutschen unter den Tisch saufen" zu können. Es wurde schließlich "als Russe" von ihm erwartet, ebenso wie ein latent aggressives Verhalten. Für Land und Mensch gilt hier offenkundig das gleiche Klischee: Als "Russe" muss man sich gut prügeln können. privat Saufen und prügeln: Als "Russe" wurde das von Sergej Prokopkin erwartet.
"Ich habe viele Vorurteile internalisiert", weiß der 35-jährige Social-Media-Manager heute. Er war 17 Jahre alt, als seine Familie von Russland nach Deutschland kam. Sein Abitur absolvierte er an einem Studienkolleg in Hamburg – dort wurden Russlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge in einem Sonderlehrgang unterrichtet. Obwohl der Geschichtslehrer seinen Mitschülern und ihm gegenüber sehr wohlbesonnen war, sprach er sie mit "meine Slawen" an, um zu provozieren. "Er holte teilweise biologistische Stereotype aus der NS-Zeit heraus, zum Beispiel: 'Ihr habt runde Köpfe'. Wir mussten uns heftig dagegen wehren", berichtet Sergej Prokopkin auf seinem Instagram-Kanal in einem Beitrag, mit dem er auf Antislawismus aufmerksam machen möchte.
Antislawismus – Slawenfeindlichkeit – tritt neben dem antischwarzen, antisemitischen und antimuslimischen Rassismus sowie dem Antiziganismus als eine von vielen Rassismusformen auf und war bereits im 19. Jahrhundert in Deutschland weit verbreitet. Er richtet sich gegen Menschen slawischer Herkunft, also aus osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern. Dazu gehören Russland, und die ehemaligen Sowjetrepubliken wir Kasachstan und Kirgisien, die Ukraine und Weißrussland sowie Polen, Tschechien und die Slowakei, außerdem südosteuropäische Staaten wie Bulgarien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien und Montenegro
Insbesondere aus Sibirien, Kirgisien und Kasachstan kamen in den vergangenen Jahrzehnten auch Millionen deutschstämmige Rückwanderer in die Bundesrepublik zurück, teilweise unter beträchtlichen Integrationsproblemen. In der Sowjetunion waren sie die "Deutschen" und wurden benachteiligt, in der alten Heimat sind sie die "Russen". Doch während ausgehend von den USA der Rassismus gegen Schwarze ("Black Live Matters") weltweit und in Protestbewegungen thematisiert wird, wird antislawischer Rassismus hierzulande kaum thematisiert.
Wie präsent er für Migranten aus Osteuropa ist, zeigt neben - wenigen - Forschungsarbeiten eine kleine Umfrage, die Sergej Prokopkin auf seiner Instagram-Seite durchgeführt hat. "Welche antislawistischen Vorurteile habt ihr schon mal mitbekommen?", wollte er wissen. Innerhalb kürzester Zeit bekam er zahlreiche Zuschriften. Die Antworten lauteten unter anderem:
„Dass mein Vater bedrohlich aussähe, dass ich zu viel feiere, aber das normal sei bei den Russen “
„Wie sexy russische Frauen doch sind und wie gut sie blasen“
„Du bist doch Russin, warum ist dir kalt?“
„Meine Familie sei russische Mafia, weil wir relativ wohlhabend sind“
„Wir können viel Alkohol ab, das sind unsere 'russischen Gene“
Auch Natalie Sablowski hat an der Umfrage teilgenommen und schrieb: "Ein Nachbar sagt zu dem Haus meiner Eltern immer noch offen Russenhaus." Die 33-jährige Journalistin wurde in Urdzhar in Kasachstan geboren und kam im Herbst 1993 mit ihrer Familie nach Deutschland. Auch sie machte Erfahrungen mit Rassismus – und erlebt ihn noch heute. "In der Grundschule sagten Kinder zu mir, ich soll dahin zurückgehen, wo ich herkomme. Auf dem Schulhof liefen sie meiner Schwester und mir hinterher und schmissen Steine nach uns und riefen, dass wir abhauen sollen", erzählt sie im Gespräch mit unserer Redaktion. Ihre Englischlehrerin habe außerdem Witze über ihren Nachnamen gemacht und sie vor der Klasse vorgeführt.
Ihr Nachname sorgt auch heute noch für Kommentare, die dazu führen, dass Natalie Sablowski sich unwohl und ausgegrenzt fühlt. "Sobald jemand erfährt, dass ich aus Osteuropa komme, werde ich gelobt, dass ich keinen Akzent habe. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich das schon gehört habe – es passiert wöchentlich, wenn ich neue Leute kennenlerne." Auch im Bekanntenkreis begegnet ihr nicht immer die notwendige Empathie. "Es ist schon vorgekommen, dass Sprüche wie 'Boah Natalie, du siehst jetzt so russisch aus` kamen, weil feminin angezogen war. Ich frage dann, was das heißen soll?" Natalie Sablowski arbeitet als Datenjournalistin in Berlin. "Rassismus funktioniert nicht nur über Farbcodes"
Darauf hinzuweisen, dass sie sich durch derartige Stereotype abgewertet fühlt, fällt ihr schwer. "Da ich weiß bin, will ich anderen Menschen, die Rassismus aufgrund ihrer Hautfarbe erleben, nicht den Raum nehmen. Man neigt zum Vergleich, denkt sich ‚Anderen geht es ja noch viel schlimmer‘. Dabei geht ja nicht darum, wer den schlimmeren Rassismus erlebt."
Was Natalie Sablowski berichtet, bereitet auch dem Historiker Jannis Panagiotidis, Direktor des Instituts für Transformationsforschung der Universität Wien, Bauchschmerzen. "Die aktuelle Debatte über Rassismus ist richtig und wichtig", sagt der Professor. "Das Thema ist und bleibt virulent – Stichwort NSU, Stichwort Hanau." Allerdings gebe es in dieser Debatte "blinde Flecken". Sie werde oft so geführt, als sei Rassismus ausschließlich etwas, wovon "People of Color" betroffen seien. "Über Phänomene wie Rassismus gegen Slawen und Osteuropäer wird hingegen nicht geredet, oder sie werden direkt in Abrede gestellt. Diese Menschen würden ja nicht aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert, heißt es dann."
Dies sei zwar einerseits richtig; andererseits funktioniere Rassismus nicht ausschließlich über "Farbcodes", weiß Panagiotidis, der unter anderem in Osnabrück als Experte für postsowjetische Migration gearbeitet hat. Osteuropa gelte im Westen seit der Zeit der Aufklärung als "rückständig", als "nicht echt europäisch". Zunächst habe es sich dabei um kein rassistisches Vorurteil gehandelt. Später wandelte sich das. "Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Slawen in der deutschen Vorstellung als rassisch minderwertig konstruiert, extrem dann bei den Nazis, in deren "Generalplan Ost" sie die Rolle als auszuhungerndes Sklavenvolk einnahmen", sagte der Osteuropa-Spezialist unserer Redaktion. "Dieser Rassismus ist nicht einfach verschwunden." Ihn ernstzunehmen, relativiere antischwarzen Rassismus in keiner Weise. "Toxische Stimmungen hinterlassen Spuren"
Auch die russische Botschaft kennt das Thema. "In Deutschland gibt es eine große russischsprachige Diaspora, die eine der größten außerhalb der ehemaligen UdSSR ist", sagte ein Sprecher unserer Redaktion. Deren Vertreter gäben sich Mühe, sich zu integrieren, sie spielten eine beachtliche Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes. "Nichtdestotrotz hinterlassen die in letzter Zeit im Westen häufiger vorkommenden Versuche, ,toxische' Stimmungen rund um das Thema Russland zu schaffen, leider ihre Spuren", berichtet der Diplomat. Die Mitglieder der russischsprachigen Diaspora, die verschiedene Nationalitäten, Religionen und Kulturen verträten, "werden immer öfter mit negativen Folgen dieser Tendenz sowohl im beruflichen als auch im alltäglichen Leben, einschließlich des so genannten Mobbings, konfrontiert". Die Botschaft verfolge aufmerksam die Fälle eines "voreingenommenen Verhaltens" das auch formale Verletzungen der Rechte von Russen und russischsprachigen Landsleuten in Deutschland einschließe. Antislawische Stereotype auch in den Medien
In den Medien ist Antislawismus ebenfalls ein Dauerbrenner und wird häufig reproduziert. Auch dass Osteuropäer in Filmen oft nur die Rolle von Kriminellen oder Armen spielen, lässt sich beobachten. "Im Tatort sind die Russen meist böse, tauchen als Mafia oder in Clans auf, tragen schwarze Lederjacken und trinken Wodka. Meist wird noch ein sehr überzeichneter Akzent vorgespielt", sagt Sergej Prokopkin. Die in Kroatien geborene jüdische Schauspielerin und Regisseurin Adriana Altaras schreibt in ihrer Autobiografie "Titos Brille", wie sie lange dafür kämpfen musste, im deutschen Fernsehen nicht immer nur eine Rolle eine Putzfrau spielen zu können.
Doch wie kann es gelingen, Antislawismus in Deutschland sichtbarer zu machen und ihn aufzuarbeiten? Sergej Prokopkin, der auch als Antidiskriminierungstrainer arbeitet, beschäftigt sich aktuell mit einem Konzept, wie sich Antislawismus in Workshops thematisieren lässt, damit mehr Menschen für diese Diskriminierungsform sensibilisiert werden können. Von Rassismus spricht er dabei aber nicht. Einer der Gründe: "Ich sehe beim Rassismus gegen weiße Menschen die Gefahr, dass ein Tor für viele Menschen geöffnet wird, die sich dann diskriminiert sehen. Ich möchte einen anderen Kampf führen." Der Zeitpunkt aber sei gekommen, sich innerhalb der Gesellschaft mit Antislawismus auseinanderzusetzen.
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