Die Börsenwelt, mit der wir es in der Realität zu schaffen haben, lässt sich augenscheinlich schon deshalb durch "Charttechnik" nicht besser beherrschen, weil die Zukunft notorisch ungewiss und sohin in jedem Augenblick in kasuistischer Weise indeterminiert* ist. Die Indeterminiertheit folgt ganz konkret daraus, dass unter dem Walten chaotischer Zustände im wirklichen Geschehen der künftige Kursgang erst durch die Handlungen des Marktpublikums in Gemäßheit der seinerzeit herrschenden, jetzt aber noch unbekannten Börsenmeinung in diese oder jene Richtung gelenkt wird. Die künftige Welt wird infolge davon zu einem sehr namhaften Teil von den erst in Zukunft noch zu treffenden Entscheidungen Einzelner bestimmt. Etwas überspitzt ausgedrückt: Die gestaltbare Zukunft ist nicht nur einfach unbekannt, sondern sie existiert im Zeitpunkt vor einer Entscheidung, dies zu tun oder jenes zu unterlassen, noch gar nicht.** [* Selbst in deterministischen Börsenwelten wären "chaotische" Entwicklungen nicht undenkbar. Für tiefere Aufschlüsse darüber siehe: Mandelbrot, B.: When Can Price Be Arbitraged Efficiently? A Limit to the Validity of the Random Walk and Martingale Models. In "Review of Economics and Statistics", Vol. 53.] [** Siehe darüber Shakle, G.L.S.: Epistemics and Economics: A Critique of Economic Doctrines Cambridge 1972] Hinzu tritt eine aus kapitalmarkttheoretischen Untersuchungen gewonnene Dimension, die den Glauben an den Nutzen der Charttechnik zu erschüttern vermag: Je mehr ein Markt auf einem gedachten Pfad sich von einem Marktungleichgewicht dem Grad der sog. "schwachen Informationseffizienz" im Verstande der Kapitalmarktgleichgewichtstheorie annähert, desto mehr Bauchschmerzen verursachen "charttechnische Signale". Bereits bei schwacher Informationseffizienz ist es bekanntlich nicht der Mühe wert, sich über die Zeitserien von Kursen der Vergangenheit zu unterrichten. Zwar ist umstritten, ob es tatsächlich informationseffiziente Märkte im Sinne der Theorie gibt; namhafte Fachvertreter jedoch gehen – zumal für Teile des Devisenmarktes, bei bestimmten Geldmarkt-Futures sowie bei einer Handvoll von umsatzstarken Aktien – immer wieder von quasi "halb-strenger Informationseffizienz" aus. Allein stellt sich bereits unter der Wirksamkeit durchgehend schwacher Informationseffizienz die praktische Folgeerscheinung ein, dass die systematische Untersuchung von Kursbewegungen aus der Vergangenheit und ihre Auswertung in Trends, Formationen und Signale unvermögend ist, Strategien aufzustellen, mit denen sich an den Börsenmärkten überverhältnismäßig rentierliche Erträge erzielen lassen. Die "technische Analyse" hat in Konsequenz dieses Gedankens keinen sachlichen Wert, sie gelangt über Stoffhuberei nicht hinaus, ist somit unnütz und zwecklos, für solche Börsendienste etwa Geld zu bezahlen, schlichtweg Vergeudung. Real hervortretende Börsenkurse auf funktionstüchtigen Märkten werden dirigiert von einem ganzen Bündel vielschichtiger und verschlungener, unaufhörlich wirksamer sozioökonomischer Motive und Einflussgrößen, angefangen von der faktischen Interdependenz von Konjunkturzyklus, Inflation und Geldpolitik, über wichtige politische Entscheidungen, Streiks etc. bis hin zu Ereignissen jenseits menschlicher Handlungen, wie etwa Naturereignissen und -katastrophen und anderen unbeherrschbaren äußeren Einwirkungsfaktoren. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher psychischer Dispositionen Einzelner (wie Risikoneigungen, Handlungsmotive u. dgl.) gründen sich auf allem dem rationale, irrationale und arationale Zukunftserwartungen, indem die vorausgehenden Momente sich in toto kondensiert in diesen niederschlagen und über ganz konkrete subjektive Kauf- und Verkaufsentscheidungen endlich in den Kursbildungsprozess einfließen. Je nach Güte und Funktionstüchtigkeit der Märkte werden die darauf bauenden Preise sich mehr oder weniger schnell und vollständig an Verschiebungen der vorerwähnten Größen anpassen. Nach dem Gesagten ist soviel wohl gewiss: Die "technische Analyse" geht fehl, weil sie nichts als unbeglaubigte Hypothesen mit bewiesenen Tatsachen identifiziert. Gleichwohl wird sie als Prognosemethode von vielen unkritisch Denkenden oder in der Sache wenig Beschlagenen als allein seligmachend erachtet. Hinter den ungerechtfertigten Behauptungen über vermeintliche Vorzüge einer praktischen Nutzanwendung der "Charttechnik" stehen nicht selten handfeste kommerzielle Interessen, gemünzt auf einen zahlungskräftigen Kundenkreis. Dies geschieht vielfach in der Hoffnung, dass der so düpierte Anleger nicht gleich merkt, wie er durch derartige Kurvenhascherei zusammengereimt mit etwas Mathematik an der Nase herumgeführt wird. Wenn überhaupt, so erweitert m.E. die "Charttechnik" lediglich das Spektrum an Instrumenten zur Geldanlageplanung, die in die Alternative kommen. Sie wird mitunter dann als ein mehr oder weniger taugliches Vehikel, speziell als gelegentlich nützlicher Fingerzeig auf die Aussicht einer "sich selbst erfüllenden Prophezeiung", dienen, wenn vor dem Hintergrund gut fundierter Analysen davon auszugehen ist, dass eine einmal erkannte symptomatische Gesetzmäßigkeit sich (rasch) umsetzt in eine ebenso gesetzmäßige Handlung. Ihre Umsetzung beruht in diesem Stück auf übereinstimmenden Erwartungen der Marktakteure als Folge des Wirkens übereinstimmender Motive in vergleichbaren Situationen. Da aber der Erfolg des eigenen Handelns bei Börsengeschäften entscheidend bestimmt wird von den Handlungen Dritter jetzt und in unmittelbarer Zukunft, lautet die Kernfrage in jeder mutmaßlich von der Charttechnik abhängenden Marktlage: "Was kann und wird die ganze Masse derjenigen tun, die sich allein und ausschließlich von der "Charttechnik" leiten lässt, jetzt und in unmittelbarer Zukunft?" – Um aus der Antwort darauf Kapital schlagen zu können, müsste indessen die eigene Anlageentscheidung in entsprechende Markthandlungen fertig umgesetzt sein, noch bevor Kauf- bzw. Verkaufsentscheidungen anderer den Kurs – einem Herdentrieb gleich meist abrupt ("herding") – alsdann in die gewünschte Richtung lenken. Hierzu bedarf es allerdings zusätzlicher, der "technischen Analyse" überlegener Methoden der qualitativen (ökonomischen) und quantitativen (ökonometrischen) Informationsauswertung. Gemeint sind komplementäre Modelle zur Preisbildung, die Gesetzmäßigkeiten im Ablauf der Marktvorgänge auf der Grundlage von Tatsachenwissen, gesetzesartigen Aussagen und vermuteten "Stimmungen", welche Erfahrungen und frühere Überlegungen (Deutungen, Auslegungen) gebührend einbeziehen, trotz aller Unberechenbarkeit möglicher künftiger Handlungen anderer mit hoher Glaubwürdigkeit und Schlüssigkeit vorauszubedenken erlauben ("pattern predictions"). |