ISRAELS NORDEN
Eine Geisterstadt unter Raketenbeschuss
Aus Kirjat Schmona berichtet Alexander Schwabe
Kirjat Schmona, die größte Stadt im Nordosten Israels, liegt seit Wochen unter Beschuss der Hisbollah. 20.000 von 25.000 Einwohnern haben den Ort verlassen. Wenn die Sirenen losheulen, haben die Zurückgebliebenen höchstens 60 Sekunden Zeit, in den Bunker zu flüchten.
Kirjat Schmona - Schon die Fahrt in diese Stadt ist geisterhaft. Die Straße 85 von Akko über Karmiel nach Rosh Pina ist wie alle Straßen nahe der libanesischen Grenze weitgehend leer. Vereinzelt kommen Fahrzeuge entgegen: Tieflader von der Front, die weitere Panzer ins Gefechtsgebiet transportieren und mit Soldaten besetzte Kleinbusse.
Nach Kirjat Schmona fährt heute kaum noch jemand. Nichts ist so einfach wie in der Stadt einen Parkplatz zu finden. Doch wer will hier schon parken? Die Stadt im äußersten Norden des Landes, in einem etwa 30 Kilometer breiten Zipfel zwischen Syrien und dem Libanon gelegen, noch dazu in der Tiefebene der einstmaligen Hule-Sümpfe, liegt seit mehr als drei Wochen unter intensivem Beschuss der Hisbollah.
Die Parkhäuser und -plätze sind leer, auf den Spielplätzen streifen nur noch Katzen umher, an vielen Häusern sind die Rolläden heruntergelassen, die meisten Geschäfte sind dicht. "Was wollen Sie hier", ruft Polizeioffizier Gilad, "alles ist geschlossen". Die Stadt ist wie ausgestorben.
In den Straßen liegen viele Scherben, unter den wenigen Autos, die unterwegs sind, fallen die Pick-up-Wagen von Glasern auf. Auf der vierspurigen Stadtautobahn blinken alle Ampeln orange. Ein alter, hagerer Mann mit langem weißem Bart, mit Hut und schwarzem Anzug schiebt sein Fahrrad auf dem leeren Highway, einer von denen, die zurückgeblieben sind. Schätzungsweise 20.000 der 25.000 Einwohner - genaue Zahlen gibt es nicht - haben sie verlassen. Hier geblieben sind die Armen und Schwachen, die Alten, diejenigen, die sich den Exodus nicht leisten konnten, die kein Geld haben für Hotels im Badeort Eilat oder auch nur für eine Reise zu Verwandten oder Bekannten - oder die wiederum nicht einmal das haben.
Einige wenige haben aus Prinzip die Stadt nicht verlassen. Karina, eine 21-jährige russische Immigrantin, deren Eltern sich kurzerhand nach Moskau zurückgezogen haben, sagt, sie habe keine Angst vor den Raketen, sie habe als Soldatin im Gaza-Streifen gedient, räumt dann jedoch ein, dass es hier in Kirjat Schmona ungemütlicher sei als in dem gefährlichen Stück Land im Süden, wo die Hamas das Sagen hat.
"Infizierter Bereich, Zutritt verboten"
Die Schrumpfpopulation wird von einem Schrumpfteam im Rathaus verwaltet, einem der wenigen Orte, wo man noch mehrere Menschen auf einem Fleck findet. Das Rathaus ist ein hässlicher Block, dessen obere Stockwerke schon lange nicht mehr benutzt werden, seit eine Rakete der Hisbollah vor sechs Jahren dort eingeschlagen ist. Zwei Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Die Regierung habe das versprochene Geld zur Wiederherstellung des Gebäudes nicht geschickt, heißt es. So arbeiten die Bediensteten auf engem Raum im Bunker des Erdgeschosses, das insgesamt vier Zimmer aufweist.
Drei Angestellte sind gerade dabei, gleich hinter der dicken Stahltür mit dem eisernen Rad und den ehernen Verschlussstäben wie man es von U-Booten kennt, ein Spruchband über den Eingangsschalter zu kleben: "Infizierter Bereich, kein Zutritt" - Galgenhumor derer, die hier bleiben müssen, obwohl sie eigentlich auch längst raus wollten aus dem Dauerbeschuss.
Kaum haben die drei Damen das Banner hingeklebt, heulen die Sirenen. Luftalarm. Wer sich im Freien befindet, hat in der Regel 60 Sekunden Zeit, um Schutz zu finden. Dann schlägt die Rakete ein. Manchmal sind es nicht einmal 60 Sekunden, bis sie detoniert. "Heute morgen schlug eine Katjuscha ein, ohne Sirenenwarnung", sagt Ricky Tzadok, 44, die in den verbliebenen Rathausräumen ihren Mann Joel, 44, besucht, der sich als Freiwilliger der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt hat. "Vergangenen Sonntag schlugen sie morgens um 7 Uhr ein", sagt Ricky, "es war Nasrallahs Art uns einen guten Morgen zu wünschen".
In den Räumen der Verwaltung werden mit dem Sirenengeheul sofort die schweren Türen geschlossen und frühestens 15 Minuten später wieder geöffnet. "Gestern gab es acht Alarme innerhalb von zwei Stunden", sagt Rahel Chavah-Suckar, 54, die im Bunker am Telefon sitzt und besorgten Bürgern Auskunft gibt. Viele sind verzweifelt, weil ihnen das Geld ausgeht. Das Leben in Kiryat Shmona sei teurer geworden, seit die Stadt leer ist. Nur wenige Läden haben offen, die Konkurrenz fehlt, das treibe die Preise hoch. Außerdem bräuchten die zurückgebliebenen, meist sozial schwachen Familien mehr Geld, um quengelnden Kindern, die in den Bunkern ausharrten, Süßigkeiten und Spielzeug zu kaufen.
Wer keinen privaten Bunkerhat, muss in öffentlichen Schutz suchen. In einem dieser Räume sitzt eine 47-jährige Mutter mit ihren zwei Kindern, die nicht genannt werden will. Sie ist mit den Leistungen der Behörden unzufrieden. "Ich höre, der Bürgermeister geht von Bunker zu Bunker - hier war er noch nicht", sagt sie. Von ihr würde er wohl zu hören kriegen, dass sich die Stadt nicht genügend um ihre Bürger kümmere. "Hier gibt es weder Dusche, noch Klimaanlage", schimpft sie.
Ihre zwölfjährige Tochter sagt, manchmal gehe sie zum Duschen nach Hause, doch dann, wenn die Sirenen wieder losheulen, fürchte sie sich so sehr, dass sie sich nicht einmal das Shampoo vom Kopf spüle und lieber wieder in den Bunker renne. "Ich verstehe nicht, wie das Land das nicht hinkriegt", sagt die Mutter, wenn Ministerpräsident Ehud Olmert in den Krieg ziehe, denke er offenbar nicht an die kleinen Städte hier im Norden.
Raketen, Raketen, Raketen
Um 13 Uhr, in brütender Hitze, hält die Polizeiführung des Norddistrikts eine Pressekonferenz in Kirjat Schmona ab. Neben Naharija am Mittelmeer ist es diejenige Stadt, die am meisten unter dem Beschuss zu leiden hat. Die Beamten präsentieren Raketenreste, stumme Zeugen der gegnerischen Aggression. Darunter sind 220-Millimeter-Raketen, wie Dutzende nach Haifa gefeuert wurden, es sind 122-Millimeter-Katjuschas chinesischen und russischen Typs mit einer Reichweite von 20 Kilometern. Durch Geschosse des russischen Typs, mit 6,5 Kilogramm Sprengstoff und tellergroßen Metallteilen bestückt, waren erst tags zuvor drei Menschen in Maalot, darunter zwei 18-jährige Jungen, und drei Menschen in Akko, darunter ein Vater und seine Tochter, getötet worden.
Das größte gezeigte Geschoss ist eine 302-Millimeter-Rakete mit 60 bis 70 Kilogramm Sprengstoff und einer Reichweite von 100 Kilometern, eine in Syrien hergestellte Kopie des chinesischen Typs, wie die Polizei erklärt. Eine dieser Raketen hatte die Hisbollah am Dienstagnachmittag wohl versehentlich auf ein Dorf nahe der palästinensischen Stadt Dschenin gefeuert.
Die Beamten verteilen eine Landkarte, auf der 2286 Raketeneinschläge bis zum Donnerstagabend, 18 Uhr, eingezeichnet sind. Überall nördlich einer Linie von Haifa am Mittelmeer über Nazareth bis nach Tiberias am See Genezareth ist die Karte mit Raketensymbolen übersät. Die meisten Raketen schlugen in und um Kirjat Schmona ein (485), gefolgt von Naharija (433), Maona (416) und Tzfat (312). Die Angaben differieren. Das Bürgermeisteramt von Kiryat Shmona gibt an, 250 Raketen seien direkt im Stadtzentrum eingeschlagen, dabei seien 25 Menschen verletzt und mehr als 400 Gebäude beschädigt worden. Die relativ geringe Zahl der Verletzten erkläre sich allein dadurch, dass 80 Prozent der Einwohner die Stadt verlassen habe. Der nationale Polizeisprecher dagegen spricht von 116 Einschlägen innerhalb der Stadt und 380 darum herum.
Todesnachricht übers Telefon
Natürlich erfährt man hier nicht, wie viele Bomben und Raketen das israelische Militär im oder in den Libanon abgefeuert hat. Es ist die Kriegsstatistik der einen Seite. Doch wer sich in Kirjat Schmona aufhält, hört allein dort bedeutend mehr Artilleriefeuer der Israelis, die ihre Kanonen entlang der drei Kilometer von der Stadt entfernten Grenze aufgebaut haben, als Raketeneinschläge des Gegners. Die ständigen Bombardements der israelischen Luftwaffe und Artillerie sind leicht bis Haifa, rund 40 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt, zu hören.
Mit dabei beim Presse-Briefing in Kirjat Schmona ist auch Nir Meriesh, der Polizeichef von Haifa. Er erzählt von den Schäden und Verlusten dort - bei einem Raketenangriff in den ersten Tagen des Konflikts waren dort acht Bahnarbeiter ums Leben gekommen. Und er erzählt davon, wie seine Truppe alles im Griff habe, dass schon in den ersten Minuten nach einem Angriff seine Leute vor Ort seien und das Nötige regelten.
Als sich der Journalistentross bereits aufzulösen beginnt, um sich rechtzeitig vor dem für den Nachmittag erwarteten und von der Polizei so genannten "Raketenhagel" in Sicherheit zu bringen, klingelt das Handy von Meriesh. Der Polizeichef von Haifa wendet sich ab. Sein Blick versteinert. Er atmet tief durch. Er sagt etwas. Er schaut in die Ferne. Wieder atmet er schwer durch. Es war ein persönlicher Anruf. Nir Meriesh wurde gerade darüber informiert, dass der Sohn seines besten Freundes im Libanon gefallen ist. Meriesh atmet noch einmal durch, dann sagt er: "Ich muss mich um das Begräbnis kümmern."
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