und ihrem Positivismus der Gegenwärtigkeit ist, dass sie nicht langweilen. Wieder und wieder besser sein und es besser wissen als die Vergangenheit, entlarven, was alle schon wissen, widerlegen, was niemand mehr vertritt, anklagen, was längst verurteilt ist − was ist daran attraktiv?
Der rebellische Gestus? Oder ist das Gefühl der Überlegenheit, das sich bei der Darstellung und Bewertung der Vergangenheit von der Höhe heutiger Moral einstellt, so verführerisch? Oder ist die entschlossene Einseitigkeit, die sich Differenzierungen und Nuancierungen erspart, so verlockend?
Es ist ein Geflecht von Gründen, dem sich die Kultur des Denunziatorischen verdankt. Der denunziatorische Zugriff auf die Vergangenheit und auch die Gegenwart ist einfach. Moralisieren reduziert Komplexität. Die Erforschung nicht nur des äußeren, sondern auch des inneren Geschehens, die Erhebung nicht nur der markanten, sondern auch der unscheinbaren Befunde, aus denen Lebenswelten rekonstruiert werden, das Bewussthalten der Distanz, der letztlich unüberbrückbaren Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Balance zwischen dem analytischen und theoretischen Gegenwartsblick und der Einfühlung in vergangene Mentalitäten, das moralische Urteil aus dieser Balance − es ist aufwendig.
Mit heutigem moralischem Maßstab zu entlarven und zu diskreditieren bedarf keines großen Aufwands. Dazu kommen die Gratifikationen moralischer Überlegenheit und des rebellischen Gestus. Sie befriedigen die Eitelkeit."
Bernhard Schlink Die Kultur des Denunziatorischen |