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Der Internet-Dienstleister Wirecard stürzt in eine tiefe Krise. Die Prüfer verweigern ihr Testat, der Aktienkurs stürzt ab. Wie kam es dazu?
Von Klaus Ott, Jörg Schmitt, Nils Wischmeyer
Am Donnerstagvormittag gab es noch einige wenige Sätze von Markus Braun, dem Vorstandschef des Internet-Dienstleisters Wirecard, der Zahlungen bei Onlinegeschäften abwickelt. Braun kündigte schnellstmögliche Aufklärung und Strafanzeige an. Am Nachmittag war der Konzernchef dann offenbar sprachlos geworden. Ein geplanter Livestream für die Aktionäre: abgesagt. Eine Telefonkonferenz für die Medien; ebenfalls abgesagt. Dabei hätte es spannende Fragen gegeben. Wie kann es sein, dass ein Konzern 1,9 Milliarden Euro vermisst? War das Geld jemals da?
Wie so oft, wenn es ernst wird, weicht Wirecard aus. Am Donnerstag wird es sehr ernst. Der Aktienkurs bricht zeitweise um 66 Prozent ein, mehrere Milliarden Börsenwert sind einfach weg. Und das bei einem Dax-Konzern, einem der 30 wertvollsten deutschen Börsenunternehmen. Die Katastrophe beginnt wenige Tage vorher mit zwei ungewöhnlichen Schreiben zweier philippinischer Banken an die Bilanzprüfer des Konzerns, an Ernst & Young (E & Y). Bei den Banken soll ein Treuhänder für Wirecard Konten unterhalten. Stolze 1,9 Milliarden Euro liegen dort laut früheren Bestätigungen der Banken. Doch genau diese Bestätigungen sind laut neuester Aussage der Banken nicht echt. Die Schreiben sind der Grund dafür, dass Wirecard kein Testat bekommt und die Vorstellung der Jahreszahlen für 2019 schon wieder verschieben muss - das vierte Mal in Folge. Für die Wirecard AG und ihren Chef Braun ist das ein Desaster. Immerhin sind die 1,9 Milliarden Euro fast ein Viertel der gesamten Bilanzsumme des Konzerns. Zudem dürfen Gläubiger zwei Milliarden Euro an Krediten kündigen, sollte die Bilanz nicht am Freitag vorliegen. Wirtschafts- und Finanzpolitik Anleitung zur grünen Revolution in Europa Klimaziele Anleitung zur grünen Revolution in Europa
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Die Misere beginnt vor mehr als einem Jahr mit Vorwürfen der Bilanzfälschung. Wirecard soll Umsätze künstlich aufgepumpt haben, auch an der Echtheit einiger Kundenbeziehungen wird gezweifelt. Immer wieder geht es um Geschäfte in Asien. Im Oktober 2019 sieht sich der Aufsichtsrat gezwungen, die Prüfgesellschaft KPMG mit einem Sondergutachten zu betrauen. Zufall oder nicht: Fast gleichzeitig kündigt der Treuhänder Citadelle seinen Vertrag mit dem Zahlungsabwickler. Und verweigerte in der Folge jede Zusammenarbeit mit den Ermittlern der KPMG. Ob und wie viel Geld zu diesem Zeitpunkt auf den Konten von Citadelle liegt, ist unklar.
Wirecard setzt umgehend einen neuen Treuhänder ein. Dieser betreut für Wirecard offiziell sechs Treuhandkonten bei zwei Banken. Treuhänder ist ein philippinischer Anwalt mit eigener Kanzlei. Auf seiner Webseite wird er als jung, dynamisch und aggressiv porträtiert. Sein Spezialgebiet: eigentlich Familienrecht. Handelsrecht kommt erst an zweiter Stelle.
Anfang März fordert E & Y den neuen Treuhänder auf, die philippinischen Konten offenzulegen und über seine Banken Unterlagen zur Prüfung bereitzustellen. Schon ein paar Tage später bekommen die Prüfer eine Antwort der beiden Institute. Stand 31. Dezember sollen 1,123 Milliarden Euro auf Konten der Bank BDO und rund 813 Millionen Euro bei der Bank BPI gelegen haben. Verteilt ist das Geld ausweislich der Bestätigung auf mehrere Tochterfirmen, darunter Wirecard UK & Ireland und Cardsystem Middle East, sowie die Wirecard AG selbst. Unter den Bestätigungen der beiden Banken gibt es Stempel und Unterschriften. Alles sieht echt aus. Bei E&Y wurde man argwöhnisch: Zwei Dinge stoßen den Bilanzexperten auf
Eigentlich ist es nicht der Job der Wirtschaftsprüfer, wie Kriminalisten vor Ort zu recherchieren. In der Regel geben sich die Prüfer mit Bestätigungen der Banken und übersandten Kontounterlagen zufrieden. Doch nachdem die Sonderermittler der KPMG in ihrem Bericht von Ende April zahllose Fragen zu den philippinischen Treuhandkonten aufwerfen, wird man bei E & Y argwöhnisch. Vor allem zwei Dinge stoßen den Bilanzexperten auf. Warum sind die angeblichen Kontostände auf den Bescheinigungen der beiden Banken in Euro angegeben, obwohl diese normalerweise in Dollar oder der Landeswährung übermittelt werden? Und warum gehen die Bankbestätigungen innerhalb weniger Tage ein? Oft dauert das Wochen.
Die deutschen Wirecard-Prüfer von E & Y schicken daraufhin einen philippinischen Kollegen los, um mit den Banken zu sprechen. Als der den Instituten die E & Y im März zugesandten Dokumente präsentiert, wird schnell klar: Es gibt Probleme. Die Bank BDO schreibt an E & Y, dass die Bestätigung vom März "spurious" sei, also "falsch". Und dass die betreffende Mitarbeiterin kein Recht gehabt habe, die Bestätigung auszustellen. Außerdem würden die Unterschriften von zwei weiteren Mitarbeitern nicht passen. Die andere Bank in diesem Fall, die BPI, schreibt ebenfalls, die frühere Erklärung sei "spurious". E & Y informiert die deutsche Finanzaufsicht Bafin über diese Erkenntnisse. Auch die Münchner Staatsanwaltschaft, die Wirecard vor zwei Wochen in anderer Sache durchsuchte, interessiert sich für den neuen Fall. Wirecard selbst sieht sich als Opfer. Vorstandschef Braun sagt, man sei im Kontakt mit dem Treuhänder. "Ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil der Wirecard AG vorliegen, ist derzeit unklar." Für Braun und seine Vorstandskollegen wird es ungemütlich. Die dubiosen Vorgänge auf den Philippinen werfen viele Fragen auf. Welche Rolle spielt der Treuhänder? Sollte Wirecard betrogen worden sein, warum ist das im Konzern bei dieser Summe niemandem aufgefallen? Unterschlagung zulasten des Konzerns sei nicht auszuschließen, heißt es im Umfeld der Wirecard AG. Das viele Geld sei als Sicherheit für Internetgeschäfte gedacht gewesen, die über Wirecard abgewickelt werden. Der Konzern hafte für Zahlungsausfälle, und lasse sich dieses Risiko mit hohen Gebühren entlohnen. Das sei üblich in diesem Gewerbe, und das gelte auch für die Abwicklung über Treuhänder. Jetzt ist vieles unüblich. |