Alter Wein in neuen Schläuchen:
Von der Kollektivschuld zur Kollektivverantwortung
Von Hilmar Gerber
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In den ersten Nachkriegsjahren hat man die Deutschen mit dem Vorwurf der "Kollektivschuld" traktiert. Ein ganzes Volk kam an den Pranger: Mitgefangen, mitgehangen! Zunächst regte sich gegen die Pauschalbezichtigungen wenig Widerstand. Zum einen waren die Deutschen von der Kriegsniederlage traumatisiert; zum anderen ließen sich viele von dem Hinweis einschüchtern, sie hätten doch Hitler zugejubelt und damit indirekt Mitschuld auf sich geladen.
1949 schrieb der Vater von Hans und Sophie Scholl in einem Leserbrief an die "Süddeutsche Zeitung": "Ist es nicht auch Rassenwahn, wenn man die Bewohner Deutschlands kollektiv für schuldig, unehrenhaft oder politisch unmündig erklärt, nur, weil sie Deutsche sind?" Der Protest war verständlich, denn das Kollektivschuldurteil erfaßte letztlich auch NS-Gegner und Widerstandskämpfer. Dem Vater der 1943 hingerichteten Geschwister Scholl mußte das besonders absurd und infam vorkommen.
Krude Schwarz-Weiß-Technik
Aber auch Nationalsozialisten, Funktionäre und Parteimitglieder, waren nicht automatisch schuldig. Kein Geringerer als Alexander von Stauffenberg, der Bruder des Hitler-Attentäters, mahnte 1955 in einem Gedenkartikel eine differenzierte Sicht des Dritten Reiches an:
"Ein echtes Bild der damaligen Zeit müßte in vielen Farben schillern. Man darf nicht den häufig begangenen Fehler wiederholen, es in einer kruden Schwarz-Weiß-Technik nachzumalen. Es ist ein grober Unfug, sich heute vorzumachen, als ob die Anhänger des Nazi-Systems damals alle Teufel, seine Gegner durchweg Engel gewesen wären. Die Wirklichkeit sah anders aus, das Bild war häufig umgekehrt."
Viele ehemalige Nationalsozialisten zogen es jedoch vor, den Kopf einzuziehen und schlimmste Pauschalverdächtigungen über sich ergehen zu lassen. Manche sahen in dem Kollektivschuldvorwurf auch die Chance, individuelle Fragen nicht beantworten zu müssen. Wenn alle mehr oder minder schuldig sind, spielt der einzelne keine Rolle mehr. Ex-NS-Propagandisten wie beispielsweise "Stern"-Gründer Henri Nannen klagten das deutsche Volk über Jahrzehnte wie besessen an, um sich selber aus der Schußlinie zu halten.
Semantischer Trick
Mittlerweile sind die Zeugen und Mitwirkenden des Dritten Reiches nahezu ausgestorben. Der schon damals groteske Vorwurf einer Kollektivschuld würde heute, bei den Nachgeborenen, auf einhellige Empörung stoßen. Dies um so mehr, als ein beträchtlicher Teil der Jüngeren in Deutschland von ausländischen Einwanderern abstammt. Politik und Massenmedien stehen deshalb vor einem Problem. Wie kann man die NS-Vergangenheit weiterhin tagespolitisch instrumentalisieren, wenn sich fast niemand mehr persönlich angesprochen fühlt?
Man behilft sich mit einem semantischen Trick. Aus der Kollektivschuld wurde die Kollektivverantwortung. Unter der Überschrift "Auschwitz ist unser Brandmal" schreibt Nannen-Nachfolger Thomas Osterkorn im "Stern" (5/05): "Die Deutschen sind verantwortlich für dieses Jahrtausend-Verbrechen." Schuld sei zwar nicht übertragbar, weder im strafrechtlichen noch im moralischen Sinn. Aber wir müßten "unsere Kinder immer wieder aufklären über das, was war, und ihnen sagen, weshalb Verantwortung nicht gleich Schuld ist".
Kein Verzeihen in 1000 Jahren
Letzteres wird nicht ganz einfach sein. Dazu ein Blick in den Synonym-Duden. Unter Synonymen sind sinnverwandte Wörter gemeint. Schlägt man bei "Schuld" nach, findet sich als Ersatzbegriff sofort das Wort "Verantwortung". Und umgekehrt. Die Bedeutungsunterschiede sind aus sprachwissenschaftlicher Sicht so gering, daß man beide Begriffe auf ein und denselben Sachverhalt anwenden kann. So geschieht es denn auch ständig. Ob es nun heißt "Du bist schuld" oder "Du bist verantwortlich", das ist zumindest alltagssprachlich weitgehend egal. Ein möglicher Unterschied liegt allenfalls im Bedeutungsumfang. Manchmal geht Verantwortung noch über Schuld hinaus - wenn beispielsweise jemand die Verantwortung für die Tat eines anderen übernimmt.
In der Debatte über die NS-Vergangenheit erfüllt die "Kollektivverantwortung" den gleichen Zweck wie die "Kollektivschuld". Ein ganzes Volk wird pauschal und undifferenziert in Haftung genommen für Vorgänge, an denen die heute Lebenden mehrheitlich schon aus biologischen Gründen nicht teilgenommen haben können. Zur Kollektivverantwortung tritt zu allem Überfluß also auch noch die Erbschuld oder, wenn man so will, die Erbverantwortung. Wie lange sie dauern soll, erfährt man leider nicht. Aber beim jüngsten Besuch des Bundespräsidenten in der Knesset betonten israelische Politiker mit Nachdruck, daß den Deutschen auch noch in tausend Jahren nichts verziehen und vergessen werde.
Horst Köhler, oberster Repräsentant dieser Deutschen, wagte nicht den geringsten Einwand. Im Gegenteil. Er sagte in Jerusalem: "Die Verantwortung für die Shoa ist Teil der deutschen Identität." Und: "Deutschland steht unverbrüchlich zu Israel und seinen Menschen." Und: "Zwischen Deutschland und Israel kann es nicht das geben, was man Normalität nennt."
Mit Verlaub: Weiß der Bundespräsident, wovon er spricht? Das Modewort "Identität" bedeutet laut Duden "völlige Gleichheit". Zwei völlig gleiche Dinge sind identisch. Ein Ding allein kann nicht identisch sein; es gehört dazu immer ein Vergleichsstück. Ins Deutsche übersetzt, hat Köhler vor der Knesset gesagt: "Die Verantwortung für die Shoa ist Teil der deutschen völligen Gleichheit." Ein Nonsens-Satz.
Gemeint hat Köhler etwas anderes: Die Verantwortung für die NS-Judenverfolgung (hebräisch "Shoa") ist ein Teil deutschen Wesens, ein Teil deutscher Eigenart. Doch klares Deutsch hätte die heimatlichen Zuhörer womöglich verstört. Da klingt "Identität" weit harmloser, auch wenn es den Sinn des Vortrags überhaupt nicht trifft.
Bedingungslose Gefolgschaft?
Auch die anderen Köhler-Sätze, oben zitiert, darf man nicht unbedingt am gesunden Menschenverstand messen. Das für ganz Deutschland und alle Zeiten abgegebene Versprechen, "unverbrüchlich zu Israel und seinen Menschen" zu stehen, läuft auf eine Blutsbrüderschaft hinaus, bei der Recht und Moral keine Rolle mehr spielen. Natürlich spricht nichts dagegen, sich an die Seite eines anderen Staates zu stellen, sofern man mit dessen Politik übereinstimmt oder zumindest Interessensparallelitäten entdeckt. Aber ein bedingungsloser Blankoscheck für ewige Freundschaft ist schlichtweg unverantwortlich und beraubt deutsche Politik ihres Handlungsspielraums.
Noch ratloser macht Köhlers Diktum, zwischen Deutschland und Israel könne es keine Normalität geben. Damit werden alle Wiedergutmachungs- und Aussöhnungsbemühungen ad absurdum geführt. Es mag sein, daß ein ehemaliger KZ-Häftling mit einem ehemaligen KZ-Aufseher keine "normale" Umgangsbasis mehr findet. Aber weshalb sollten Deutsche und Israelis, die nach 1945 in absoluter Unschuld zur Welt gekommen sind, nicht normal miteinander umgehen?
Täterschaft vererbt sich ebensowenig wie Opfertum. Kein heutiger Deutscher muß sich als geborener Verbrechensverantwortlicher fühlen, und kein heutiger Israeli oder Jude kann einen aus dem Mutterleib empfangenen Opferstatus für sich beanspruchen. Alle Menschen kommen gewissermaßen "jungfräulich" zur Welt, nackt und ohne geschichtliche Hypothek. Sie fangen, was ihre eigene Schuld oder Unschuld betrifft, bei Null an, haben die Chance zu freier Entwicklung in dieser oder jener Richtung. Auch in Zukunft wird es Täter und Opfer geben, auf allen Seiten, in allen Völkern. Darauf muß die Menschheit ihre vorbeugende Aufmerksamkeit richten. Frühere Rollen und Konfrontationen zu verallgemeinern und dann auf ewig fortzuschreiben, ist das wohl Dümmste und Verantwortungsloseste, was Politiker und Geistesschaffende der Welt antun können. Es wird auch durch Kerzenlicht und salbungsvolle Worte nicht besser.
Andere Länder, andere Sitten
Kein englischer Journalist würde heute schreiben: "Dresden ist unser Brandmal." Kein Politiker in Moskau käme auf die Idee, Stalins millionenfachen Morde auch nur im entferntesten dem russischen (oder georgischen) Volk anzulasten. Kein US-Präsident würde in die irakische Hauptstadt reisen, um dort vor den Nachfahren gefolterter Häftlinge zu bekunden: Abu Ghraib ist Teil der amerikanischen "Identität". Nahezu überall auf der Welt herrscht genügend Gedanken- und Gedenkenschärfe, um Verbrechen in Schuld und Verantwortung derer zu belassen, die sie verübt oder angeordnet haben.
Warum das in Deutschland anders ist? Weil hier die sogenannte Vergangenheitsbewältigung von finanziellen Spekulationen und tagespolitischen Hintergedanken begleitet wird. Nur ein Volk, das sich zutiefst schuldig oder verantwortlich fühlt, zahlt jahrzehntelang Wiedergutmachung in astronomischer Höhe. Davon leben auf dieser Welt Millionen von Menschen. Der US-jüdische Soziologe Norman G. Finkelstein hat dafür das Wort von einer "Holocaust-Industrie" geprägt. Längst werden auch Nachfahren der Opfer aus deutschen Kassen versorgt.
Nicht zuletzt wollen Abkömmlinge der Täter von der "Kollektivverantwortung" profitieren. Sie schreiben ein Hitler-Buch nach dem anderen, drehen Filme über das Dritte Reich wie Süchtige ihre Joints, füllen Zeitungen und Magazine mit endlosen Serien über den NS-Staat, angereichert mit möglichst vielen Leichenbergen. Noch 60 Jahre später erweist sich der Nationalsozialismus als erfolgreicher Arbeitsplatzbeschaffer und Wohlstandsgarant. Allein die Honorare, die ZDF-"Bewältiger" Guido Knopp dem toten "Führer" verdankt, dürften sich mittlerweile siebenstellig summieren. Kein Wochenblatt, das etwas auf sich hält, läßt sich die Chance entgehen, wenigstens ein- oder zweimal im Jahr mit einem Hitler-Titelbild die Auflage hochzuschrauben.
Opfer-Mißbrauch für Propagandazwecke
Neben dem finanziellen Kalkül rangiert der politische Effekt: Solange sich alle vor dem braunen Mann aus Braunau fürchten, taugt er wunderbar als jederzeit zu mobilisierendes Schreckgespenst. Unliebsame Parteien, insbesondere national orientierte, tun sich schwer, ihre Zukunftsvorstellungen dem Wähler nahezubringen, wenn ihnen in Wort und Bild unablässig das Dritte Reich mit seinen dunkelsten Seiten vorgehalten wird. Das ist bequem, erspart geistige Auseinandersetzung über die Probleme der Gegenwart.
Wer es als erster schafft, dem Konkurrenten ein Hitler-Bärtchen anzumalen, hat schon gewonnen. Und da die Inhaber der Macht über die Medien verfügen, ist für sie dieser Wettlauf gar nicht zu verlieren. Sie können sogar nach und nach demokratische Freiheitsrechte einschränken oder gleich ganz suspendieren, wenn damit nur Hitlers Wiederauferstehung verhindert wird. Das Auschwitz-Gedenken ist Mittel zum Zweck. Es dient wesentlich der Warnung vor heutigen "Gefahren", genauer: vor unerwünschter Opposition. Die NS-Opfer werden aus ihren Gräbern gezerrt und wie Vogelscheuchen an die Burgzinnen gehängt.
Der "Stern" machte es unlängst wieder vor: Erst eine 16seitige voyeuristische Bildstrecke über Auschwitz, dann - unmittelbar folgend - zehn antifaschistische Empörungsseiten über die NPD. Das alles unter der heuchlerischen Schlagzeile: "Müssen wir uns heute noch schuldig fühlen?" Nein, das müssen wir nicht. Und wir brauchen uns ersatzweise auch nicht eine Kollektivverantwortung für das vergangene Jahrhundert aufnötigen zu lassen. Es genügt, wenn jeder für sich selber im Hier und Heute haftet.
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