SPIEGEL
Gerichte erwarten Klagewelle wegen Hartz IV
Die Kritik an der Sozialreform Hartz IV flaut nicht ab - sie wird erbitterter. Sozialgerichte bereiten sich darauf vor, dass eine Klagewelle über die hinweg rollt. Die Arbeiterwohlfahrt warnt vor "Aggression und Gewalt", sieht eine neue "außerparlamentarische Opposition" - und sogar "Konflikte auf der Straße".
Arbeitslose in der Warteschlange: Angst vor dem Wegfall der Förderung
Berlin/Hamburg - Langsam wird es auch Mitgliedern in den Regierungsparteien mulmig. Nicht nur Oppositionspolitiker, auch erste Grüne fordern nun Nachbesserungen bei der Arbeitsmarktreform Hartz IV. Der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Markus Kurth, verlangte in der "Berliner Zeitung" höhere Freibeträge bei der Anrechenbarkeit der Altersvorsorge.
Man könne den Menschen nicht sagen, sie sollten ihre Altersvorsorge aufbauen, sagte Kurth - um ihnen die Versicherungen bei Arbeitslosigkeit wieder weg zu nehmen. Schon jetzt gebe es bei Lebensversicherungen die höchste Storno-Quote seit zehn Jahren, obwohl die Hartz-IV-Reform erst zum Jahresanfang in Kraft trete.
Auch bei den Regeln für die Zumutbarkeit von Arbeitsstellen sieht Kurth Korrekturbedarf. Sie müssten präzisiert werden, um Lohn-Dumping zu verhindern. Sein dritter Änderungswunsch: Mieter müssten durch einen Verweis im Gesetz auf das örtliche Mietniveau besser geschützt werden.
Die Justiz in Hamburg will nicht darauf spekulieren, dass derartige Änderungen tatsächlich umgesetzt werden - zumal Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) sie bisher immer abgelehnt hat. Daher bereiten sich Richter darauf vor, dass ab Januar eine Klagewelle auf sie zurollt. Viele Menschen würden nicht akzeptieren, dass sie erheblich weniger Leistungen bekämen, prognostizierte Michael Ruppelt, Präsident des Sozialgerichtes, im "Hamburger Abendblatt".
Kein Geld mehr fürs Essen am Wochende?
Das Gericht werde sogar eine Eilstelle einrichten, sagte er, um kurzfristig eine große Zahl von Anträgen bearbeiten zu können. So sei damit zu rechnen, dass Arbeitslose am Freitagnachmittag einstweilige Anträge auf Rechtsschutz stellen - mit der Begründung, sie hätten am Wochenende kein Geld mehr für Essen oder Miete. Solche Anträge müssten sofort entschieden werden, deswegen sei die neue Einrichtung nötig.
Reformnamensgeber Hartz: Aufstand der Verbände
Nach Einschätzung der Arbeiterwohlfahrt (Awo) wird Hartz IV zu "Aggression und Gewalt" führen. Das sagte Awo-Bundesausschussmitglied Paul Saatkamp der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Er erwarte spätestens im Januar Handgreiflichkeiten in den Arbeitsagenturen, weil es zwar Kürzungen, aber keine Aussicht auf neue Jobs gebe. "All das läuft früher oder später auf eine neue außerparlamentarische Opposition heraus, die sich auch nicht scheuen wird, Konflikte auf der Straße auszutragen", warnte Saatkamp.
Zudem werde Hartz IV Familien auseinander reißen. Der Arbeiterwohlfahrt würden immer mehr Fälle bekannt, in denen Eltern die Absicht äußerten, ihre erwachsenen arbeitslosen Kinder aus dem Haus zu schicken, damit diese Arbeitslosengeld II erhielten und nicht allein vom Geld der Eltern leben müssten. "Das sind zynische Folgen einer sowieso grausamen Reform", kritisierte der Experte.
"Sie sind demnächst die Dummen"
Langzeitarbeitslose versuchten zudem mit allen Mitteln, ihr Vermögen und das ihrer Familienmitglieder und Lebenspartner vor dem Zugriff der Arbeitsagenturen zu retten, sagte Saatkamp. Bankkonten würden leer geräumt, um das Geld der Kontrolle zu entziehen. Viele ließen sich ihre Lebensversicherungen so weit auszahlen, dass die Restsumme den Betrag nicht übersteige, der für das Arbeitslosengeld II unschädlich sei.
Man könne es den Betroffenen nicht verübeln, dass sie das Geld beiseite schafften, sagte Saatkamp. Denn wenn sie für das Alter vorgesorgt hätten, wie es die Politik verlange, "sind sie demnächst die Dummen, weil sie das Geld aufbrauchen müssen, bevor sie Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung realisieren können". Vom Motto "Fördern und Fordern" sei allein "Kürzen und Fordern" übrig geblieben. Schon jetzt sei absehbar, dass die versprochene bessere Vermittlung nicht funktionieren werde. So benötigten die Arbeitsagenturen dafür rund 50.000 Fallmanager. Das aber sei illusorisch.
Weise: Ab Januar vielleicht mehr als fünf Millionen Arbeitslose
Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden im Zuge der Hartz-IV-Reform zum Jahresanfang 2005 zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hatte vorige Woche mit dem Versand der Vordrucke an 2,2 Millionen derzeitige Bezieher von Arbeitslosenhilfe begonnen. Verzögerungen bei der Erhebung und Verarbeitung der Daten könnten die fristgerechte Auszahlung gefährden.
Der Vorstandschef der BA, Frank-Jürgen Weise, schließt nicht aus, dass die Zahl der Arbeitslosen im kommenden Winter als Folge der Zusammenlegung auf fünf Millionen steigen könnte. "Die Gefahr besteht, auch wenn es sich dabei nur um eine statistische Veränderung handelt", sagte er der "Süddeutschen Zeitung". "Wenn jemand die Chance auf eine Stelle hat und arbeiten will, gehört er in die Statistik der Bundesagentur." Experten schätzen, dass zehn bis 30 Prozent der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger derzeit nicht bei den Arbeitsagenturen registriert sind.
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