Florian Gerster wurde weggemobbt – für den Kanzler fangen die Probleme jetzt erst an
Das arbeitsmarktpolitische Gesamtkonzept fehlt.
Dem Eklat folgt das große Jammern. Die Illusion von spürbaren Erfolgen ist zerplatzt. Das arbeitsmarktpolitische Gesamtkonzept fehlt.
Groß waren die Hoffnungen, viel versprechend die Ankündigungen. Von zwei Millionen neuen Jobs war im Reformsommer 2002 die Rede, wenn man dem verheißungsvollen Kurs nur folge. Peter Hartz war der eine, Florian Gerster der andere Hoffnungsträger der rot-grünen Bundesregierung. Und heute? Jetzt, im Winter 2004, ist die deutsche Politik nach dem emotionsgeladenen Showdown der letzten Tage wieder jäh in der rauen Wirklichkeit unseres Arbeitsmarktes angekommen. Selbst der stets zu regierungsamtlichem Optimismus verpflichtete Bundeswirtschaftsminister geht in seinem soeben vorgelegten Jahresbericht von fast 4,3 Millionen Arbeitslosen im diesjährigen Jahresdurchschnitt aus. Andere, wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft, sehen die weiteren Perspektiven noch zurückhaltender. Einige rechnen sogar vor, dass die offizielle Statistik die Misere eher beschönige, weil die Zahl der offenen und verdeckt Arbeitslosen bei mehr als 5,6 Millionen liege.
Geht trotz all der großen Worte der milde konjunkturelle Aufschwung am Arbeitsmarkt fast folgenlos vorbei? Tatsache ist: Der Beschäftigungsabbau in Deutschland setzt sich unvermindert fort, eine durchgreifende Entspannung an der Jobfront ist kaum in Sicht. Gleichzeitig haben sich die Ausgaben des Staates zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Bei diesem dramatischen Befund ist für Nebenkriegsschauplätze eigentlich kein Platz.
Und dennoch! Ausgerechnet das wichtigste arbeitsmarktpolitische Instrument, die seit Jahresanfang umetikettierte Bundesagentur für Arbeit, wird – und zwar schon seit geraumer Zeit – auf ziemlich miese Art zum Spielball der Interessen und Intrigen. Weil Florian Gerster zum Beispiel die wenig erfolgreichen, aber zu teuren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kurzerhand zum „Auslaufmodell“ erklärt hat, weil er ferner die üppigen Weiterbildungsprogramme, von denen Gewerkschaften wie Wirtschaftsverbände nur zu gut lebten, auf mehr Effektivität verpflichtete, wurde gegen ihn von Anfang an „Mobbing auf hohem Niveau“ betrieben; so sagte schon vor Monaten ein Verwaltungsrat ahnungsvoll. DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer, derzeit Vorsitzende des Gremiums, warf dem Modernisierer seinerzeit sogar „gesetzwidrige Geschäftspolitik“ vor.
Deshalb ist das jüngste Geschehen auch kein Fall Florian Gerster, eher schon ein Testfall für das Funktionieren einer Selbstverwaltung, die allzu oft im Verdacht steht, mehr Selbstbedienung zu sein. Jetzt ist der Kanzler gefordert. Gerhard Schröder selbst hat im Februar 2002 den unbequemen, durchaus eitlen Sozialminister aus Mainz als „den besten Mann für meine größte Baustelle“ berufen. Sein Auftrag lautete kurz und knapp: grundlegende Neuorganisation der gesamten Jobvermittlung.
Seither wird in der Mammutbehörde mit ihren 90 000 Mitarbeitern an 821 Standorten fast im Stundentakt umgebaut. Berater kommen und gehen; 25 verschiedene Projektgruppen werkelten bisweilen nebeneinander. Aber ist auch eine arbeitsmarktpolitische Gesamtkonzeption erkennbar? Diese hatte Schröder im Sommer 2002 einem anderen anvertraut: VW-Vorstand Peter Hartz. Er erfand binnen weniger Wochen, wahlkampfgerecht inszeniert, immer neue Reformmodule, garniert mit dem Versprechen, so die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Doch die Umsetzung des gigantischen Projektes mit seinen vielen schillernden Begriffen und Visionen wurde anschließend Florian Gerster vor die Füße geworfen. Damals hatte der Kanzler versprochen, die Kommissionsvorschläge „eins zu eins“ umzusetzen; er wollte sogar einen „Steuerungskreis“ einrichten, „dem ich persönlich vorsitze“.
Nichts von alledem geschah. Stattdessen wurde Gerster von allen Seiten ausgebremst. Als er auf mehr Unabhängigkeit seiner Behörde drängte, schickte ihm der Kanzler mahnende Briefe, die deutlich machten, dass ihm der Mann mit dem ausgeprägten politischen Selbstverständnis allmählich lästig wurde. Als der Drachentöter aus der Nibelungenstadt Worms frühzeitig auf Leistungskürzungen für Arbeitsunwillige drängte, ging die SPD-Fraktion auf Widerstandskurs. Endgültig wurde er vom Hoffnungsträger zum Buhmann, als er forderte, es könne künftig nicht mehr nur um Verteilungsgerechtigkeit gehen. Am Ende stimmten sogar die Regierungsvertreter im Verwaltungsrat gegen ihn, so treuherzig Wolfgang Clement auch die Erfolge seines Gefolgsmannes bis zum bitteren Ende lobte.
Jetzt geht der Reformer. Und die Blockierer bleiben? Gerster war von Anfang an ein Mann zwischen sämtlichen Fronten. Forderte die Wirtschaft noch mehr Tempo, torpedierten die Gewerkschaften umso unverhohlener. Auch die Opposition gab wider besseres Wissen reichlich opportunistisch Contra.
Deshalb ist ein Erfolg versprechender Neuanfang in Deutschlands größter und wichtigster Behörde auch nur möglich, wenn zwei Grundbedingungen erfüllt sind:
- ein klares Bekenntnis aller beteiligten Gruppierungen zu einem konkreten inhaltlichen wie strukturellen Reformprogramm
- sowie konsequente Rückendeckung durch den Kanzler. Wenn es jemals in der deutschen Politik eine „Chefsache“ gab, dann hier!
Sonst muss der Mammutapparat aufgelöst werden. Denn die wichtigsten Entscheidungen für mehr Beschäftigung fallen ohnehin andernorts. Zum Beispiel in der aktuellen Tarifpolitik, die auf Warnstreiks zuläuft.
Auch dies gehört zu den jüngeren Erfahrungen: Nur dort, wo die Politik auf strikte Deregulierung gesetzt hat, stellen sich erkennbar Erfolge ein: Etwa bei den Ich-AGs, den Minijobs und generell im Niedriglohnsektor. Negatives Gegenbeispiel ist die Leiharbeit. Hier wurde zusätzlich bürokratisiert; Arbeitsuchende wurden aus der nicht subventionierten Zeitarbeit in die subventionierten Personal-Service-Agenturen (PSA) verschoben. Ergebnis: Statt der geplanten 700 000 Jobs sind bis Ende letzten Jahres ganze 5439 entstanden; der komplizierte Aufbau der PSAs verschlingt in der Arbeitsverwaltung Geld, Personal, Energien.
Noch immer ist der Arbeitsmarkt in Deutschland – Agenda 2010 hin oder her – stärker reguliert als in den meisten anderen Ländern. Selbst wenn wir bei den Arbeitskosten seit kurzem nur noch Vizeweltmeister sind, reicht diese Verfassung nicht aus, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Deshalb muss sich die Politik jetzt wieder ganz schnell diesen Hauptthemen zuwenden. Wer nur nach Nürnberg schielt, guckt an der Wirklichkeit vorbei.
Merkur online, 30.1.2004 |