Lieber Herr Mustermann,
Gaza. Die Ukraine. Und Sahra Wagenknecht. Diese Themen bestimmen die Schlagzeilen. Das ist alles wichtig. Aber nicht alles. Oder haben Sie von der „Westminster Deklaration“ gehört?
Vielleicht haben Sie im Rest der Republik den Sinn dafür, sich kurz mit diesem Text zu befassen. In der Deklaration warnen Journalisten, Künstler, Autoren, Aktivisten und Wissenschaftler vor einer zunehmenden Zensur, die jahrhundertealte demokratische Normen zu untergraben drohe.
Zu den Unterzeichnern zählen Wikileaks-Gründer Julian Assange, der NSA-Whistleblower Edward Snowden, Harvard-Wissenschaftler wie Steven Pinker, der Oxford-Historiker Niall Ferguson sowie der rechtskonservative Filmemacher Oliver Stone.
Das breite Spektrum fällt auf. Es steht als Merkmal gleich am Anfang des gemeinsamen Textes. Ich habe mich entschlossen, ihn an dieser Stelle in wesentlichen Teilen wiederzugeben, weil er in meinen Augen Ihre Aufmerksamkeit verdient hat.
Der Text lautet:
Wir kommen von links, von rechts und aus der Mitte. Wir sind uns einig in unserem Bekenntnis (...) zum Recht auf freie Meinungsäußerung. Wir sind alle zutiefst besorgt über die Versuche, geschützte Meinungsäußerungen als „Fehlinformation“, „Desinformation“ und mit anderen unpassenden Begriffen zu bezeichnen.
Der Missbrauch dieser Begriffe hat zur Zensur von Bürgern, Journalisten und Dissidenten auf der ganzen Welt geführt.
Ein solcher Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung unterdrückt eine ernsthafte Diskussion über Angelegenheiten von dringendem öffentlichem Interesse und untergräbt die Grundprinzipien der Demokratie.
Weltweit arbeiten staatliche Akteure, Social-Media-Unternehmen, Universitäten und Nichtregierungsorganisationen verstärkt daran, die Bürger zu überwachen und ihnen ihre Stimme zu nehmen. (...)
Dieser Komplex wird oft durch direkte Regierungsmaßnahmen betrieben. In Indien und der Türkei haben die Behörden die Befugnisse erlangt, politische Inhalte aus den sozialen Medien zu entfernen. Der Gesetzgeber in Deutschland und der Oberste Gerichtshof in Brasilien kriminalisieren politische Äußerungen. In anderen Ländern drohen Maßnahmen (...) die Meinungsfreiheit stark einzuschränken und eine abschreckende Wirkung zu entfalten.
Der industrielle Zensurkomplex arbeitet auch mit subtileren Methoden. Dazu gehören die Filterung der Sichtbarkeit, die Kennzeichnung und die Manipulation von Suchmaschinenergebnissen. Durch Deplatforming und Tagging haben die Zensoren der sozialen Medien bereits legitime Meinungen zu Themen von nationaler und geopolitischer Bedeutung zum Schweigen gebracht.“
Julian Assange sitzt in Haft. Die USA wollen seine Auslieferung. (dpa)
Auch die EU wolle „überprüfte Forscher“ zur Meinungssteuerung nutzen und Ansichten als richtig und als falsch bewerten. Einige Politiker und Nichtregierungsorganisationen zielten auf die Überwachung auch verschlüsselter, persönlicher Nachrichten und Kanäle in Messaging-Apps wie Whatsapp und Telegram ab.
„Unter dem Deckmantel der Schadenvermeidung und des Wahrheitsschutzes wird die Meinungsäußerung als erlaubte Handlung und nicht als unveräußerliches Recht behandelt“, schreiben die Autoren der Erklärung.
Und weiter:
Wir erkennen an, dass Worte manchmal Anstoß erregen können, aber wir lehnen die Vorstellung ab, dass verletzte Gefühle und Unbehagen, selbst wenn sie akut sind, einen Grund für Zensur darstellen. Ein offener Diskurs ist der Grundpfeiler einer freien Gesellschaft und unerlässlich, um Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen, schwache Gruppen zu stärken und die Gefahr von Tyrannei zu verringern. (...)
Darüber hinaus haben sich unpopuläre Meinungen und Ideen immer wieder als Allgemeinwissen durchgesetzt. Wenn wir bestimmte politische oder wissenschaftliche Positionen als „Fehlinformation“ oder „Desinformation“ abtun, laufen unsere Gesellschaften Gefahr, in falschen Paradigmen stecken zu bleiben, die der Menschheit hart erarbeitetes Wissen vorenthalten und die Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu gewinnen, zunichte machen. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist unsere beste Verteidigung gegen Desinformation.
Als logische Folge des Rechts auf freie Meinungsäußerung nennt die Erklärung das Recht auf Information. „In einer Demokratie hat niemand ein Monopol auf das, was als wahr angesehen wird. Vielmehr muss die Wahrheit durch Dialog und Debatte gefunden werden.“
Dagegen führe die Zensur im Namen des „Schutzes der Demokratie“ zu einem System der ideologischen Kontrolle von oben nach unten.
„Als Unterzeichner dieser Erklärung haben wir grundlegende politische und ideologische Meinungsverschiedenheiten. Aber nur wenn wir uns zusammentun, können wir die eindringenden Kräfte der Zensur besiegen“, schließt die Erklärung, die Sie an dieser Stelle mit dem vollständigen Text und allen Unterzeichnern einsehen können.
Ich würde mich freuen, wenn Sie mit mir meinen würden, dass die Warnung mehr Aufmerksamkeit verdient hat, als ihr bisher zuteil geworden ist.
Ich schließe mich ihr jedenfalls an.
Freundliche Grüße,
Burkhard Ewert |