HANDELSBLATT, Montag, 29. Mai 2006, 07:41 Uhr Spitzentreffen
Koalition ändert Hartz IV in Trippelschritten
Der Streit zwischen Union und SPD um die steigenden Kosten bei Hartz IV schwelt weiter. Die Union will den Arbeitslosen die Leistungen rigide kürzen, die SPD lehnt dies ab. Ein Spitzentreffen am Sonntagabend in Berlin brachte immerhin kleine Fortschritte. Betrüger müssen sich demnach bald vorsehen.
HB BERLIN. Man habe sich darauf verständigt, das so genannte Fortentwicklungsgesetz soweit zu ändern, dass es nicht mehr durch den Bundesrat müsse, hieß es nach dem Treffen am Sonntagabend aus Teilnehmerkreisen. Damit solle sichergestellt werden, dass es termingerecht am 1. August dieses Jahres in Kraft treten könne. Von diesem Gesetz, das eine Reihe von Missbrauchsmöglichkeiten abschaffen soll, erhofft sich die Koalition noch in diesem Jahr erhebliche Einsparungen. Das Gesetz soll bereits an diesem Donnerstag im Bundestag verabschiedet werden. Erst wenn diese Neuregelungen in Kraft seien, wolle man über weitere Verbesserungsmöglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik reden, hieß es weiter.
Seit Wochen streiten Union und SPD über die Zukunft der Hartz-IV-Arbeitsmarktreform. Von Januar bis April waren die Kosten für das Arbeitslosengeld II um über eine Milliarde Euro über den Vorjahreswert gestiegen. Zur Begrenzung der Kosten haben führende Unionspolitiker eine Generalrevision mit erheblichlichen Leistungskürzungen verlangt, was die SPD ablehnt.
Man wolle gemeinsam daran gehen, zusätzliche Impulse für den Arbeitsmarkt zu geben, sagte der SPD-Vorsitzende Kurt Beck nach dem dreieinhalbstündigen Treffen im Kanzleramt. Als „Horrormeldungen“ wies er Darstellungen zurück, wonach die Kosten der Arbeitsmarktreform in allen Bereichen aus dem Ruder liefen. Dies stimme etwa nicht für Arbeitslosengeld II oder die finanziellen Aufwendungen für die Vermittlung. Laut Beck bekam Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) in der Runde Rückhalt für seine Position, wonach der Bund über die Projekte, die er bezahle, auch selbst bestimmen solle.
An dem Spitzentreffen nahmen neben Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Müntefering die Partei- und Fraktionschefs von CDU, CSU und SPD sowie Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) teil.
Angesichts der hohen Belastungen durch die Hartz-IV-Reform loten Steinbrück und Müntefering bereits bestimmte Korrekturen beim Arbeitslosengeld II aus. Beide SPD-Politiker machten sich „kreative Gedanken“ über zusätzliche Einsparungen bei der Reform im kommenden Jahr, bestätigten am Sonntag Koalitionskreise und Haushaltspolitiker von SPD und Union.
Nach Informationen des Magazins „Der Spiegel“ wollen Müntefering und Steinbrück bis Juli einen Vorschlag vorlegen, wie sich die Ausgaben des Bundes für den Arbeitsmarkt 2007 im geplanten Finanzrahmen halten lassen. Anfang Juli legt Steinbrück auch seinen Etatentwurf für 2007 vor. Münteferings Sprecher Stefan Giffeler wollte die Gespräche weder bestätigen noch kommentieren. Er stellte aber klar: „Leistungskürzungen sind nicht gewollt und nicht geplant.“
Der Koalitionsstreit zwischen Union und SPD über die Anfang 2005 gestartete Hartz-IV-Reform war zuletzt deutlich schärfer geworden. Müntefering verteidigte seinen Kurs gegen Unions-Kritiker: „Es gibt wirklich keinen Grund, das Ganze in Frage zu stellen“, sagte er auf dem Deutschen Katholikentag in Saarbrücken.
Bei der zweiten Sitzung des Koalitionsausschusses innerhalb eines Monats ging es neben der Arbeitsmarktreform auch um die Gesundheitsreform. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und der Unions-Experte Wolfgang Zöller berichteten über den Stand der Verhandlungen in den Arbeitsgruppen. Konkrete Ergebnisse oder Vorentscheidungen habe es nicht gegeben, verlautete nach dem Treffen.
Zur Sprache kam auch die negative Lehrstellen-Entwicklung und eine Neufassung der Einsatzrichtlinien für die Bundeswehr. Die SPD sperrt sich gegen eine von Teilen der Union befürwortete Ausweitung des Streitkräfte-Einsatzes im Innern.
Müntefering und Arbeitgebergeber-Präsident Dieter Hundt gerieten am Wochenende in der Debatte über fehlende Lehrstellen aneinander. Müntefering rief die Wirtschaft mit scharfen Worten zu größeren Anstrengungen auf. Hundt konterte: „Von einem mangelnden Einsatz der Wirtschaft kann nicht die Rede sein.“ Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) sprach sich für eine Kürzung der Lehrlingsgehälter aus.
Nach Befürchtungen der Bundesregierung könnten im Herbst über 30 000 Jugendliche ohne Lehrstelle dastehen - wenn die Betriebe in den nächsten Monaten ihr Angebot nicht deutlich erhöhen. Am Montag startet daher eine große Werbeaktion von Wirtschaft und Regierung.
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