von Jacques Schuster:
Viele, die gegen die AfD auf die Straße gehen, gebärden sich, als böten sie wie 1933 oder 1943 mutig dem Faschismus die Stirn. Abgesehen von der Frage, ob diese Demonstrationen den gewünschten Effekt haben – sich heute für die Weiße Rose zu halten, ist ein anstößiger Vergleich.
Im Schatten des Faschismus lebt es sich schaurig-schön bequem. Jedenfalls in Deutschland. Hierzulande reicht es nicht, Verfassungsfeinde als solche zu bezeichnen. Es genügt nicht, dass Hunderttausende Menschen in löblicher Absicht zusammenkommen, um für die Demokratie einzustehen. Es muss sofort der große Dämon beschworen werden. Dann werden die bröseligen Relikte des eigenen Geschichtsunterrichts im Tremolo der Ergriffenheit hervorgeholt und die Lage in Deutschland so gezeichnet, als marschierten bald wieder Hitlers Schergen durch das Brandenburger Tor, als besetzten die Hakenkreuzottern das Kanzleramt, als stünde das Land vor dem Beginn einer Terrorwelle: „Wie tobt’s in diesen wilden Tagen! / Ein jeder schlägt und wird erschlagen“ (Faust II).
Ist es in Deutschland wieder so weit? Nur Entrückte und Nervenbündel werden dies ernsthaft behaupten – die misslichen Umfragewerte der AfD hin oder her. Der Unterschied zwischen der Weimarer und der Berliner Republik ist: Die Mehrheit in den Parteien, der größte Teil der Beamten, der Soldaten, der Industrie, der Kirchen und Verbände, kurz, die Mehrheit der Gesellschaft steht zur Demokratie. Sie kann und will sich keine andere Staatsform vorstellen. Sie hat keinen Hang zum Autoritären und schon gar nicht zum Führerstaat. Sie weiß, dieser hat Europa schon einmal in eine Zone der Erniedrigung, der Quälerei und des Todes verwandelt. „Nie wieder“ ist nicht jetzt, wie uns die meisten Politiker in flinker Gedankenarmut weismachen wollen. „Nie wieder“ war schon immer seit 1949.
Dennoch hört man allenthalben das Gegenteil. Auf dem Theater – so geschehen im Berliner Ensemble – geloben die Schauspieler und das Publikum feierlich: „Alle zusammen gegen den Faschismus!“ Auf den erfreulich großen Protestzügen dieser Tage gegen die AfD erinnern Demonstranten mit Wut und Tränen in den Augen sogar an den Widerstand der Weißen Rose, jener kleinen Schar todesmutiger Studenten um die Geschwister Scholl, die heimlich Flugblätter an der Münchener Universität auslegten, von der Gestapo verhaftet und in vielen Fällen hingerichtet wurden.
Für die beschränkten Gemüter unter den Demonstranten verteilen Aktivisten sogar tatsächlich weiße Rosen. Selbst dem Begriffsstutzigsten soll klar werden, wogegen Widerstand geübt wird. Im Furor der guten Sache merkt offenbar keiner, wie anstößig sämtliche Vergleiche mit der Weißen Rose und der Nazizeit sind. Der Umkehrschluss verdeutlicht es: Wenn die Lage in Deutschland heutzutage der von 1933 oder 1943 ähnelt, dann kann es damals nicht so schlimm gewesen sein.
Verharmlosend und geschichtsvergessend ist die gegenwärtige Überspanntheit. Überdies hilft sie keinen Schritt weiter. Trotzdem lässt sie sich sogar unter vielen Politikern und Kommentatoren wahrnehmen. Sie führen die Worte „Nazi“ und „Faschisten“ derart häufig im Mund, als drohe ein neues Ermächtigungsgesetz, ließe man sie weg. Haben die Deutschen noch alle Tassen im Schrank? Womöglich nicht. Allerdings steckt mehr dahinter als eine bloße Hysterie.
Viele Landsleute befinden sich im Wahn eines nachgeholten Widerstandes. Sie übertragen die Vergangenheit in die Konflikte der Gegenwart, als müsste heute der Kampf geführt werden, den damals die eigenen Großväter und Großmütter in ihrer Mehrheit nie geführt hatten, weil sie mut- oder kraftlos oder gleichgültig oder eben selber Nazis waren. Das kollektive Trauma über das Mitläufertum der eigenen Familien führt zur späten Reinwaschung, indem man heute umso mutiger den Anfängen wehrt – selbst wenn die gegenwärtigen Anfänge gar nicht die damaligen sind. Mögen sie heute noch so widerlich sein.
„Wehret den Anfängen!“ – wie oft hat man dergleichen schon gehört? Seitdem Deutschland um seine Vergangenheit ringt, war bisher noch jede politische Auseinandersetzung in diesem Land eine, in der es mehr um die eigene traumatische Erinnerung ging als um das Problem der jeweiligen Gegenwart – vom Protest gegen die Notstandsgesetze in den 60er-Jahren bis zu den Demonstrationen der Friedensbewegung in den 80ern.
Selbst heute, drei Generationen nach dem Ende des „Dritten Reiches“, lugt die Vergangenheit der düsteren zwölf Jahre immer wieder aus ihrem Versteck hervor. Sie sorgt dafür, dass große Teile der Gesellschaft Maß und Mitte verloren haben. Eine nüchterne Debatte, wie man den Verfassungsfeinden beikommen kann, lässt sich unter diesen Umständen kaum führen, denn der Nazi-Vorwurf ist über die Jahrzehnte zu einem Plastikwort des Polit-Jargons geworden. Nichts sagt er mehr aus, zudem hat der Anwurf meist nicht einmal Folgen.
Seit Jahren schon beschwören besonders Sozialdemokraten und Grüne die Nazigefahr der AfD. Ihr sei entschlossen entgegenzutreten. Nur: Das war‘s dann auch. Die eigene Politik hat keiner von ihnen je infrage gestellt. Schlimmer noch, Probleme wie die Migrationskrise ließ man immer größer werden. Überheblich tat man die Sorgen der Bevölkerung ab. Wer sie dagegen offen ansprach und Lösungen forderte, die es immer schon gab, der geriet leicht in die Gefahr, ein Rechter zu sein, womit wir wieder bei der Vergangenheit sind.
Nicht nur der nachgeholte Widerstand ist ein deutsches Markenzeichen, es ist auch der Hang, die „Lehren der Geschichte“ als Waffe gegen den politischen Gegner einzusetzen und ihn mitunter auf niederträchtige Art zu verunglimpfen. Nicht als ob aus der deutschen Geschichte keine Lehren zu ziehen wären. Vielmehr geht es um die allzu rasche und bösartige Instrumentalisierung dieser tatsächlichen oder angeblichen Lehren.
Schon Mitte der 80er-Jahre schrieb der Philosoph Hermann Lübbe ein kluges Buch über den „Politischen Moralismus“. Er gab ihm den Untertitel „Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“. Darin beschreibt der Autor die allgegenwärtige Versuchung, den politischen Gegner in den Schatten der Vergangenheit zu stoßen, um ihn zum Schweigen zu bringen. In Deutschland bestehe die Unart, „aus jeder moralischen und politischen Delegitimierung eine Probe aufs Exempel antifaschistischer Gesinnung zu machen“. Diese Neigung spürt man bis heute.
Robert Habeck versuchte es jüngst auf diese Weise. Mit verwelktem Madonnenlächeln warnte der grüne Wirtschaftsminister vor der rechten Unterwanderung der Landwirte, um ihren Protest möglichst noch vor dem Aufkommen zu diffamieren. Zum Glück vergeblich. Weitere Beispiele aus jüngster Zeit gibt es zuhauf. Sie dienen dazu, die Ansichten und Absichten des Gegners dadurch zu entkräften, dass man dessen moralische Integrität infrage stellt.
Wahrscheinlich wäre dieses Vorgehen im Fall des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke sogar angebracht. Nur: Das Schwert ist stumpf geworden. Im Fall der AfD versagen die altbekannten Abwehrmechanismen. Heute gehen diejenigen auf die Straße, welche die AfD auch schon vor den neuesten Enthüllungen ablehnten. Wer die Partei wirksam bekämpfen will, der löse gefälligst die Probleme, die jeder seit Jahren sieht. Die AfD als solche ist dazu nicht in der Lage. Außer Protest und Provokation stellt sie nichts dar, verkörpert allenfalls Zerstörung und Zersetzung.
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