1. „Die erste Unterstellung lautet: Es gibt gar keinen pandemischen Notstand.“
Ich bestreite den pandemischen Notstand nicht. Die Frage lautet: Wie weit soll der Staat gehen dürfen um siche gesellschaftlichen Missständen entgegenzustellen? In der Regel in Anwendung von Notrecht.
Annahme: In einem Stadtteil von München herrscht hohe Kriminalität. Ausländische Banden kontrollieren den nächtlichen Drogenhandel. Es gibt Gewalt gegen Menschen und Gütern. Die Bevölkerung ist verunsichert. Es gibt einen Notstand! – Die Lösung: Eine nächtliche Ausgangssperre in diesem Stadtteil würde ihn deutlich eindämmen. Somit wäre diese „Massnahme daraus sachlich ableitbar und somit sowohl legal wie legitim“. Wäre das in diesem Fall auch deine Haltung…? - Wenn nicht deine, dann käme sicher rasch ein anderer (z. B. Malko), der die Idee gut fände…
2. „Durch die Maske wird gar nichts in Frage gestellt“
Wer spricht von Masken? In vielen Staaten herrschen Ausgangssperren. Wenn es nach Söder ginge auch in Deutschland. In Frankreich darf man nur mit Selbstdeklaration vor die Türe, zum Einkauf, zur Arbeit oder zum Behördengang. Eine ältere franz. Bekannte wurde im Niemandsland des franz. Zentralmassivs von der CRS (Police Nationale) schikaniert und mit 1‘000 Euro gebüsst, weil sie mit ihrem Hund weiter als 200 m von ihrem Haus spazierte. In Italien sind seit Monaten die Schulen zu (welche eine Ungerechtigkeit für arme Familien!). Vielen Menschen in prekären Verhältnissen wird durch die Massnahmen die (informelle) Erwerbs- und somit die Existenzgrundlage entzogen. Die Mafia und faschistische Ultras verteilen Essenspakete für die Leute auf der Strasse. In Wien verkündet der Kurze theatralisch seine Massnahmen, die Grünen winken unkritisch alles ab. In Frankreich werden Kinder während Monaten eingesperrt, in den 1-2 Zimmer Wohnungen der Banlieues, bis sie Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Und so weiter... (Bei dem allen haben wir noch gar nicht über die Wirksamkeit einzelner Massnahmen gesprochen.)
Stossend finde ich, dass die Politikerinnen, Chef-Beamten und Virologen, die diese Massnahmen beschliessen, ihre 200‘000 Euro im Jahr auf sicher haben, in grossen Wohnungen und grossen Häusern mit Garten wohnen, ihre Musterfamilien um sich haben, und sich dabei kaum in die Lage des Prekariats herein denken wollen und können. Wenn sie schon von „Solidarität“ sprechen und diese den Bürgern abverlangen, sollen sie in diesen Tagen 30 % von ihrem Einkommen freiwillig abgeben, für die Menschen, die ihre Existenz verlieren. Künstlern zum Beispiel.
Ich arbeite mit psychisch kranken Menschen. Ich sehe, wie sie in Einsamkeit und Isolation gedrängt werden, weil Hilfsangebote eingestellt werden, weil sie keine Familie haben oder weil sie Freunde nicht besuchen können. Und das schon bei den moderaten Massnahmen bei uns. Wie sieht das erst in anderen Ländern aus? Die Gesundheit misst sich nicht nur an den freien Spitalbetten. Es gibt auch die seelische Gesundheit der Bevölkerung.
3. Ich bin der Letzte, der die Gesundheit der Menschen dem Kapital opfern will. Aber ich bin erstaunt wie wenig kontrovers die linken Kräfte, besonders aber das (gutsituierte) linke Bildungsbürgertum, die massiven Einschränkungen der Freiheitsrechte diskutiert. Dass selbst von deiner Seite keine Bedenken vorhanden sind, kann ich nicht verstehen.
Ich war froh zu sehen, dass wenigestens die LINKE im Bundestag dem Gesetz gegenüber kritisch auftrat, und somit die verunsicherten, überforderten oder kritischen Menschen in dieser Krise nicht nur rechts gehört werden. |