Aus einem Interview im Spiegel mit dem Politik-WS Hein Goemans, der ein Standardwerk über Kriege und ihre Beendigung geschrieben hat:
SPIEGEL: Was muss passieren, damit der Krieg endet?
Goemans: Grundsätzlich müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein militärischer Konflikt zu Ende geht: Erstens müssen sich die Erwartungen der gegnerischen Parteien annähern, was den weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen angeht – auch wenn sich das noch nicht zwangsläufig auf dem Schlachtfeld widerspiegeln muss. Zweitens müssen beide Seiten den Eindruck haben, dass eine Friedensvereinbarung durchsetzbar ist. Und drittens muss, ganz schlicht, das physische Überleben der Parteien gesichert sein. All das ist im Ukrainekrieg noch nicht klar.
SPIEGEL: Wovor hat Putin Angst?
Goemans: Ich glaube, dass Putin Angst vor zunehmend instabilen, sich demokratisierenden Gesellschaften hatte, die die Herrschaft von Autokraten infrage stellen. Es gab die Orange Revolution in der Ukraine, eine Beinahe-Revolution in Belarus, Proteste in Kasachstan. Am Ende der Dominoreihe sieht er sich selbst. Vermutlich hatte er den Eindruck, eine angebliche Verwestlichung seiner Nachbarschaft stoppen zu müssen, um Gefahr von seiner eigenen Macht abzuwenden. Er denkt wie ein Politiker des 19. Jahrhunderts, in den Kategorien von Großmächten und Einflusssphären. Das Problem ist, dass Russland keine Großmacht mehr ist.
SPIEGEL: Hätte es einen Weg gegeben, den Krieg zu verhindern?
Goemans: Gegenfrage: Hätte Putin mit einer neutralen, unabhängigen, demokratischen Ukraine leben können, selbst wenn sie niemals Nato-Mitglied wird? Ich glaube nicht. Deshalb ist keine der Zusagen, die er macht, etwas wert. Auch wenn er sich morgen auf einen Waffenstillstand oder auf Verhandlungen einlässt, wird er vermutlich die Zeit nutzen, seine Truppen aufzustocken, neu zu bewaffnen und wieder loszuschlagen. Gleichzeitig kann sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht auf einen Deal einlassen, durch den sich Putin in derselben Ausgangslage wie am 24. Februar befindet. Das ukrainische Volk wird ihm das nicht durchgehen lassen. ...
SPIEGEL: Es gibt auch in Deutschland Stimmen, die fordern, die Ukraine solle endlich mit Putin verhandeln, um das Töten zu beenden. Was halten Sie davon?
Goemans: Die Frage ist, was das im Moment bringen wird. Putin ist ein Mörder, er hat Attentäter quer durch Europa geschickt, um Menschen umzubringen. Wo wird er aufhören? Es empört mich sowohl moralisch als auch intellektuell, dass jetzt gefordert wird, wir müssten Putin Zugeständnisse machen. Er und seine Leute wollen eine Form des Zarenreichs wiederherstellen. Warum sollte er, wenn er in der Ukraine gewinnt, damit aufhören?
SPIEGEL: Würde die Lieferung deutscher Kampfpanzer am Ausgang des Krieges etwas ändern?
Goemans: Der Fehler, den viele Leute derzeit machen, ist, dass sie sich an konkreten Waffen, Panzern und Zahlen festklammern. Darauf kommt es aber nicht an, sondern auf die Erwartungen der Kriegsparteien. Putins Erwartung ist, dass er Selenskyj unter Druck setzt, indem er die Europäer dazu bringt, die Ukraine zu einem Deal zu zwingen. Und die deutsche Position, wie sie sich derzeit für mich darstellt, ermöglicht das.
SPIEGEL: Was sollte Deutschland Ihrer Meinung nach tun?
Goemans: Putin glaubt, dass er die Europäer gewissermaßen aus dem Konflikt herausfrieren kann, indem er ihnen das Gas abdreht und für kalte Wohnzimmer sorgt. Erst wenn Deutschland seine Haltung in dem Konflikt fundamental ändert, könnten sich auch die Erwartungen Putins ändern. Die Europäer und Olaf Scholz müssten einen Weg finden, glaubhaft zu signalisieren, dass sie Selenskyj nicht zu Konzessionen zwingen werden, die Russland einen Sieg bescheren. Und mit Sieg meine ich ein Ergebnis, das für Putin besser ist als die Ausgangslage vom 24. Februar, in der Russland Teile des Donbass kontrollierte. Wenn Scholz glaubhaft signalisieren kann, dass er einen russischen Sieg nicht akzep- tieren und sich nicht erpressen lassen wird, dann wäre das ein großer Unterschied. Eine Wischiwaschi-Politik wird nicht funktionieren.
Interview: Christoph Scheuermannn n Nr. 44 / 29.10.2022
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