"Wir müssen das deutsche Modell überdenken"
Ökonomen rügen Politik/ Ruf nach Deregulierung des Arbeitsmarkts/ Munich Economic Summit
orn. MÜNCHEN, 7. Mai. Im globalen Standortwettbewerb steht Europa derzeit nicht gerade blendend da: Das Wachstum ist verhalten, die Arbeitslosigkeit hoch, immer mehr Unternehmen verlagern ihre Aktivitäten. Dank des technischen Fortschritts ist es möglich geworden, den Produktionsprozeß in immer mehr Einzelteile zu zerlegen, und so nehmen "Outsourcing" - der Einkauf von bisher im eigenen Unternehmen produzierten Gütern und Diensten bevorzugt im kostengünstigeren Ausland - und "Offshoring" - die Abspaltung und Auslagerung von Betriebsteilen ins Ausland - zu. Als Folge verliert Europa ähnlich wie die Vereinigten Staaten immer mehr Arbeitsplätze vor allem in der Industrie.
Seit 1991 habe deren Zahl in Deutschland um 27 Prozent abgenommen und in Amerika um 14 Prozent, sagte der Ökonom Hans-Werner Sinn zu Beginn des "Munich Economic Summit", einer vom CES-Ifo-Institut und der BMW-Stiftung Herbert Quandt organisierten Konferenz. Geringqualifizierte Arbeitskräfte sind von diesen Verschiebungen am stärksten betroffen. Das stellt Europa vor große Herausforderungen: "Die Regierungen müssen einen Weg finden, mit den Schmerzen und Schwierigkeiten umzugehen, die sich aus dem Wandel ergeben", sagte Pascal Lamy, Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO), vor Teilnehmern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Dabei könne gerade Deutschland als exportorientierte Volkswirtschaft von einer weiteren Liberalisierung des Handels zur Stärkung der internationalen Arbeitsteilung profitieren. Insbesondere China, Indien und Brasilien hätten als Märkte großes Potential. Die Nachfrage aus diesen Ländern nach Produkten der Automobilindustrie, des Maschinenbaus, der chemischen und der elektronischen Industrie werde wachsen. Um so wichtiger sei es, daß die Doha-Runde rasch zum Abschluß komme. Trotz des ergebnislos verstrichenen Apriltermins zeigte sich Lamy zuversichtlich, daß die entscheidenden technischen Fragen bis Juli geklärt werden.
Wie sehr ein Land von der internationalen Arbeitsteilung profitieren könne, hänge wesentlich von Bildung, Forschung und Entwicklung ab, betonte Lamy, ebenso wie vom nationalen Arbeitsrecht - und damit forderte er sowohl die Unternehmer als auch die Politik zum Handeln auf. Daran anknüpfend, mahnte der CES-Ifo-Chef Hans-Werner Sinn indes, Fortbildung, Forschung und Entwicklung seien unternehmerische Aufgaben und sollten dies doch wohl auch bleiben. Die Unternehmer wüßten am besten, welche Qualifikationen gefragt seien. Aufgabe der Politik sei es, die Rahmenbedingungen richtig zu setzen - und vor allem die Arbeitsmärkte zu deregulieren. Deutschland stehe mit den Arbeitskosten in der Industrie international an der Spitze. Die Unternehmen würden somit schier zum Outsourcing getrieben. Dem Aderlaß an Industrie-Arbeitsplätzen stehe auch keine Vielzahl anderer neu geschaffener Stellen gegenüber - und das liege an der Starrheit der Löhne und am überteuerten Sozialstaat. "Wir müssen das deutsche Modell überdenken", rief Sinn.
Bezüglich der Deregulierung des Arbeitsmarkts haben auch nach Ansicht des Genfer Ökonomen Richard Baldwin die meisten europäischen Regierungen bisher versagt. Im Zuge der Aufsplitterung der Produktionsprozesse habe sich herausgestellt, daß gering- und mittelqualifizierte Arbeit in Europa im Vergleich zu ihrer Produktivität bisher zu hoch entlohnt worden sei. Darauf gebe es nur zwei mögliche Reaktionen: die Senkung der Preise oder der Mengen. Die Länder hätten sich gemäß dem Prinzip des geringsten Widerstandes für die Mengenreaktion entschieden, was sich in den hohen Arbeitslosenquoten insbesondere geringqualifizierter Menschen niederschlage. Das müsse nicht sein. Baldwin verwies auf den gegenteiligen Fall Kanadas, das eine Drosselung der Löhne für einfache Arbeit zugelassen habe und wo der Löwenanteil der Arbeitslosigkeit nun auf hochqualifizierte Menschen entfällt.
Das oftmals als Bedrohung empfundene Outsourcing dient freilich nicht nur der Kostensenkung, sondern auch der Suche nach anders nicht verfügbaren Talenten, wie Samuel di Piazza, Global Chief Executive Officer von Pricewaterhouse Coopers, in Erinnerung brachte. Dementsprechend klagte Anton Kathrein, der das gleichnamige Familienunternehmen leitet, über den notorischen Ingenieurmangel in Deutschland. Den Ruf nach einer so begründeten lockereren Einwanderungspolitik in Europa indes konterte Hans-Werner Sinn mit der Warnung: "Das wäre das Ende des Sozialstaats." Völlig offene Grenzen seien mit einem Gemeinwesen, das so umfangreiche öffentliche Leistungen gratis bereitstelle wie Deutschland, nicht vereinbar.
Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) bekräftigte sein Bestreben, allgemein einen besseren Zugang zu den nationalen Märkten in Europa zu erwirken. Über den Kompromiß zur Dienstleistungsrichtlinie zeigte er sich enttäuscht. "Da hätte ich mir mehr Mut gewünscht", sagte er und fügte sarkastisch hinzu: "Das war eine Sternstunde Europas." Ansonsten sagte Glos in einer Rede, die der Veranstalter zu seinem offenkundigen Befremden allzu vollmundig als "Grundsatzrede" vermarktet hatte, er beobachte mit Skepsis, daß sich bei "vielen" - er meinte wohl Kabinettskollegen - die Neigung erhöhe, eine aktivere Rolle des Staates zu fordern. Staatliches Handeln in der Wirtschaft sei aber selten effektiv. Dennoch definierte Glos die Zuständigkeiten des Staates breiter als Sinn. Es gebe einige Ansatzpunkte für aktive Gestaltung: zum Beispiel in der Energieversorgung, aber auch in Forschung und Innovation. "Ich hätte den Transrapid schon gern hier in München." Deutschland und Europa müßten international im Rennen bleiben.
EU-Industriekommissar Günter Verheugen sekundierte Glos in diesem Punkt. Es müsse darum gehen, für die künftige wirtschaftliche Entwicklung strategisch wichtige Produktionen in Europa zu halten. Dafür sei kluge Industriepolitik vonnöten. Man könne sich längst nicht mehr mit der ehemaligen technologischen Überlegenheit trösten. Asien sei Europa dafür viel zu dicht auf den Fersen. "Und wenn wir die Produktion verlieren, verlieren wir auch Forschung und Entwicklung."
Text: F.A.Z., 08.05.2006, Nr. 106 / Seite 15
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