Mainz Knapp 60 000 Menschen in Deutschland erkranken jährlich an Darmkrebs. Für vier von zehn Kranken ist die Krankheit nach der Behandlung nicht besiegt, denn bei ihnen kommt der Krebs nach wenigen Jahren zurück. Oft anders und schlimmer als zuvor.
Zum Weltkrebstag erklärt Prof. Uğur Şahin (56) von BioNTech im exklusiven BILD-Interview, wie mRNA-Technologie bald vielen Dickdarmkrebs-Patienten die Angst vor einem Rückfall nehmen könnte und bei welchen Krebsarten das Prinzip des Corona-Impfstoffs noch Hoffnung macht.
BILD: Wie kann mRNA-Technologie einen Rückfall bei Darmkrebs verhindern?
Prof. Uğur Şahin: Mit einem gezielten Angriff des Immunsystems auf einzelne Krebszellen. Diese können sich noch im Körper der Patienten, die nach einer OP zunächst tumorfrei erscheinen, befinden und sind in Bildgebungsverfahren zum Beispiel Computertomographie nicht sichtbar. Bei etwa 30 Prozent der Patienten ist dies der Fall. Die kleinsten Tumorzellen können mittels eines Tests im Blut gemessen werden. Wir arbeiten daran, dass der Körper solche Tumorzellen mit der Hilfe einer mRNA-Therapie aufspüren und zerstören kann.
Wie funktioniert das genau?
Prof. Şahin: Stellen Sie es sich so vor, dass die mRNA-Therapie dem Immunsystem die typischen Merkmale der Tumorzellen aufzeigt. Diese Merkmale gibt es nicht auf gesunden Zellen des Patienten, sie sind eindeutig. Somit kann das Immunsystem die Tumorzellen als Feind erkennen, angreifen und zerstören.
Was bedeutet eine solche Behandlung für Patienten?
Prof. Şahin: Die Therapie soll einen Rückfall verhindern oder verlangsamen. Das kann die aktuelle Standardtherapie nicht. Denn: Kommt es zwei bis drei Jahre nach einer Darmkrebs-OP zu einem Rückfall mit Metastasen aufgrund der zurückgebliebenen Krebszellen, ist das prognostisch nicht gut. Metastasen wachsen oft in anderen Organen, etwa Leber, Lunge oder anderen Teilen des Darms. Mit einer rechtzeitig eingesetzten mRNA-Therapie möchten wir erreichen, dass Metastasen gar nicht erst entstehen, der Krebs nicht erneut ausbricht. Dies untersuchen wir aktuell in klinischen Studien. Zudem kann eine solche Behandlung Patienten einen enormen psychischen Druck ersparen. Statt jahrelang aufgrund fehlender Behandlungsmethoden darauf zu warten, ob ein Rückfall geschieht, monatelange Chemotherapien zu machen oder immer wieder zu CT-Kontrollen zu gehen, soll eine mRNA-Behandlung früh für die Patienten einen Unterschied machen.
Wann können Darmkrebs-Patienten auf diese neue Therapie hoffen?
Prof. Şahin: In etwa drei Jahren wollen wir weitere Daten vorliegen haben. Diese sind ausschlaggebend für die weitere Entwicklung der Therapie. Wir screenen aktuell mithilfe mehrerer Zentren in Deutschland etwa in Bochum, Heidelberg und Hamburg Tumor- und Blutproben erster Patienten. 200 sollen in einer internationalen Studie nach erfolgter chirurgischer Entfernung des Tumors und abgeschlossener Chemotherapie behandelt werden. Dabei sind auch Zentren aus den USA, Spanien und Belgien.
Kann es einen Anti-Rückfall-Impfstoff für alle geben?
Prof. Şahin: Nein, die Therapie muss für jeden Patienten individuell angepasst werden. Der Grund ist, dass Tumore individuell sehr unterschiedlich sind. Auch wenn z. B. zwei Patienten die gleiche Krebsart haben, so unterscheiden sich ihre Tumoren zu 97 %. Manche Patienten haben 30 Mutationen also genetische Veränderungen in ihrer Tumor-DNA, andere 50 oder 100. Und diese verteilen sich auf die rund 20 000 Gene eines Menschen. Die 3 % an Gemeinsamkeiten bei Tumoren reichen hier einfach nicht aus, um dafür eine Einheitstherapie herzustellen.
Kommt die Therapie auch für andere Krebsarten infrage?
Prof. Şahin: Ja. Wir glauben, dass das die Zukunft der Krebstherapie ist. Häufige Rückfälle, sogenannte Rezidive, gibt es zum Beispiel bei Bauchspeicheldrüsenkrebs, Brustkrebs, Blasenkrebs und Leberkrebs. Auch bei Brustkrebs (Triple Negative Breast Cancer) weiß man, dass das Immunsystem im Prinzip in der Lage ist, Tumorzellen zu erkennen es braucht dafür aber Unterstützung. Die Merkmale des Tumors müssen systematisch erkannt werden, damit viele Zellen des Immunsystems die Krebszellen angreifen können.
Für welche anderen Krebsarten forschen Sie gerade an mRNA-Ansätzen?
Prof. Şahin: Für Hautkrebs haben wir seit 2014 eine Phase I-Studien laufen. Dort haben wir bereits in einer kleinen Anzahl an Patienten sehen können, dass sich Tumore tatsächlich zurückbilden können und weniger Metastasen entstehen. In diesem und im kommenden Jahr wird es dazu Daten aus der Phase II-Studien geben.
Was treibt Sie an, im Labor immer wieder neue Ansätze zu suchen?
Prof. Şahin: Als Wissenschaftler möchte ich Dinge wirklich verstehen, ihnen auf den Grund gehen. Als Mediziner sehe ich zudem, wo bessere Therapien gebraucht werden. Bisher können wir Ärzte Dickdarmkrebs-Patienten bei einem Rückfall im Frühstadium nicht viel anbieten, nur einem kleinen Teil eine Chemotherapie. Über einen wissenschaftlichen Ansatz möchte ich für diese Menschen einen Unterschied machen. Und das Tolle an Arzneimittelentwicklung ist: Viele Patienten können hoffentlich profitieren. Nicht nur die, die man als Arzt einzeln behandeln kann.
BILD: Was hat Ihnen Ihr mRNA-Corona-Impfstoff für die Krebsforschung gezeigt?
Prof. Şahin: Wir haben für die Technologie Verträglichkeitsdaten von sehr vielen Menschen. Und wir sehen, dass es hochwirksam sein kann. Wir denken, dass unsere mRNA-Technologie in der Tumor-Immunologie ähnlich hilfreich sein kann wie bei der Virus-Immunologie: Ein Impfstoff kann nicht nur eine Infektion, sondern auch schwere Krankheit verhindern oder mildern. Selbst, wenn beim Dickdarmkrebs trotz Therapie ein Rezidiv nicht ausbleibt, wollen wir zumindest die Schwere der Erkrankung mindern. |