Aus einem Interview mit W.Kaes
Wolfgang Kaes blickt auf die schmutzige Seite der sozialen Medien
In Ihrem neuen Roman ist die Hauptfigur ein sogenannter "Content Analyst". Ein Mensch, der im Auftrag der Internet-Konzerne in deren sozialen Medien nach Gewalt, Hass und Missbrauch sucht und Fotos oder Videos gegebenenfalls löscht. Wie sind Sie auf dieses Thema, auf dieses Milieu gekommen?
Ich habe per Zufall spätabends auf Arte den Dokumentarfilm "The Cleaners" gesehen, der mich regelrecht umgehauen hat. Ein journalistisches Meisterstück. Zwei deutsche Filmemacher – Hans Block und Moritz Riesewieck – haben den hauptsächlich in der philippinischen Hauptstadt Manila gedreht, wo schätzungsweise 150.000 junge Menschen diesen Job machen. Für Subunternehmer, die diese Dienstleistung dann an die IT-Konzerne verkaufen. Denn die künstliche Intelligenz im Silicon Valley ist noch lange nicht so weit, dass sie das leisten könnte. Was ist von der Meinungs- oder Kunstfreiheit gedeckt, was verstößt gegen Strafgesetze? All das Zeug kriegen die Cleaner in den Löschfabriken auf ihre Bildschirme gespielt. Sexuelle Gewalt an Frauen und Kindern, politisch motivierte Gewalt, Folter und öffentliche Hinrichtungen, perfide Hassbotschaften – die Cleaner haben jeweils zwei Sekunden Zeit, um zu entscheiden: Löschen oder ignorieren?
Wie geraten derartige Mengen an digitalen Giftmüll in die sozialen Medien?
Das ist ein hausgemachtes Problem. So wie Facebook oder Twitter angelegt sind, verdienen sie ihr Geld nicht mit den Nutzern, die ja nichts bezahlen, sondern mit der Werbeindustrie. Je mehr Klicks etwas erzeugt, desto mehr Geld kann von der Werbeindustrie eingenommen werden. Deshalb sind die Algorithmen so programmiert, dass sie möglichst viel Traffic erzeugen, die Nutzer sich also möglichst oft und möglichst lange in den sogenannten sozialen Medien aufhalten. Die Algorithmen haben schnell gelernt, dass mit negativen Emotionen der meiste Traffic zu erzeugen ist, mit Verleumdung und Demütigung, mit Verachtung und Hass also deutlich mehr Profit zu machen ist als mit lustigen Katzenvideos. Es ist ja ein Ammenmärchen, dass diese Versammlung menschlicher Niedertracht nur im abgeschotteten Darknet zu finden ist. Im Darknet kannst du eine Schusswaffe kaufen. Im frei zugänglichen Internet erzählen sie dir dann, was du damit anstellen sollst.
Warum machen allein in Manila 150.000 Menschen diesen Job?
Manila ist aus dreierlei Gründen die Welthauptstadt der Löschfabriken: Zum einen ist das Lohnniveau sehr niedrig – die Cleaner verdienen etwa drei US-Dollar – nicht pro Stunde, sondern am Tag. Ferner ist die Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten hoch. Und dazu ist die philippinische Gesellschaft extrem katholisch geprägt. Deshalb ist man zu der Ansicht gelangt, diese Menschen seien am ehesten davon zu überzeugen, dass sie sich auf einer heiligen Mission befänden, nämlich das Netz von der Sünde zu reinigen. Mittlerweile aber hat man festgestellt, dass die jungen Leute dort oft aus kulturellen Gründen nicht in der Lage sind, in einem westlichen Verständnis das Internet zu durchforsten – in Europa verstehen wir unter Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit etwas anderes. Die Cleaner in Manila löschen zu viele Sachen, die man in Europa gut absetzen könnte. Deshalb entstehen solche Löschfabriken inzwischen auch in Europa.
Wo?
Zum Beispiel in Polen, Irland, Andalusien. Da gibt es eine Parallele zu Manila: Das Lohnniveau ist im EU-Vergleich niedrig, die Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten ist groß, und die Bevölkerung ist stark katholisch geprägt. ----- Haben Sie selbst Social-Media-Accounts?
Nein. Ich möchte nicht zu diesem Geschäftsmodell beitragen. Bei 2,5 Milliarden Facebook-Nutzern wird mich Herr Zuckerberg auch nicht unbedingt vermissen. Ich habe nicht das Gefühl, dass mir in meinem Leben etwas fehlt. Und ich beobachte, dass immer mehr Künstler und auch einige Politiker aussteigen.
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