zum Zustand der Pharmaindustrie.
Ende des Größenwahns Eine Tablette, eigentlich wie geschaffen, um die guten Vorsätze aus der Neujahrsnacht umzusetzen: Acornplia hilft gegen Übergewicht, Nikotinsucht und Alkoholabhängigkeit. Solche Hoffnungen nährte der Hersteller, der französische Pharmariese Sanofi-Aventis, noch vor gut einemJahr.
Inzwischen macht sich Ernüchterung breit: In den USA ist die angebliche Wunderpille, der Analysten einmal einen jährlichen Spitzenumsatz von fünf Milliarden Dollar zutrauten, bis heute nicht zugelassen. Statt sich über purzelnde Pfunde zu freuen, monierten die amerikanischen Medikamentenprüfer, dass Acomplia die Selbstmordgefahr bei Patienten erhöhe. Von den segensreichen Wirkungen wider den Missbrauch von Nikotin und Alkohol ist schon längst nicht mehr die Rede. In Deutschland ist das Mittel zwar erhältlich, wird aber von den Krankenkassen nicht erstattet.
So geht das immer häufiger in der Pharmaindustrie: Die Konzerne erleiden reihenweise mit ihren neuen Medikamenten Schiffbruch. Aus Hoffnungsträgern werden Flops: Vor einigen Wochen nahm Pfizer, der weltgrößte Pharmakonzern, sein angeblich so innovatives Insulinmittel Exubera wegen Erfolglosigkeit vom Markt. Konkurrent Novartis scheiterte in den USA mit seinem Reizdarmpräparat Zelnorm; es soll Herz- und Schlaganfälle ausgelöst haben. Das Diabetesmittel Avandia von GlaxoSmithKline wird mit Knochenbrüchen und Herzerkrankungen in Verbindung gebracht.
Ganze fünf Medikamente, die Überlebenschancen und Behandlungsmöglichkeiten für Patienten entscheidend verbessern, konnten die großen Pharmaunternehmen im vergangenen Jahr bei der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA durchbringen, die seit einigen Jahren ganz genau hinsieht, wenn neue Pillen auf den Markt kommen. "Die Zahl der Neuzulassungen könnte auch 2008 auf dem Tiefpunkt bleiben", warnt die Ratingagentur Fitch.
Die Forschung lahmt und gerade die größten Unternehmen der Branche wie Pfizer, Novartis oder Sanofi-Aventis, die immer verkündet haben, dass Größe zum Erfolg führt, dass stärkere Forschungs- und Entwicklungsabteilungen mehr Medikamente hervorbringen und daher etliche Konkurrenten aufkauften, sind besonders betroffen. Tatsächlich steckte hinter dieser Flucht in die Größe eine gewisse Logik, schließlich können die Riesen der Branche die enormen Entwicklungskosten besser wegstecken als die Kleinen und haben eher eine Chance auf Blockbuster - Medikamente, die Milliardenumsätze einspielen.
Doch dieses Modell, das vor allem mit dem Namen des US-Konzerns Pfizer verbunden ist, hat eine Schattenseite: Die zunehmende Größe behindert nun die Entwicklung neuer Medikamente, denn die Großen der Branche - mit Umsätzen zwischen 20 und 30 Milliarden Euro - sind zu schwerfälligen Unternehmen mutiert, in denen etliche tausend Forscher und Entwickler nebeneinanderher arbeiten, die Hierarchien komplex und die Entscheidungswege lang sind. "Größe kann Unternehmen schwerfälliger machen. Die sind dann oft nur noch mit sich selbst und damit beschäftigt, sich zu organisieren", sagt Michael Brückner, Partner bei der Untemehmensberatung Accenture. Wendigere Unternehmen, etwa Boehringer Ingelheim aus Deutschland oder die amerikanische Genentech, die ihren Forschern mehr Freiheit lassen, bringen oft pfiffigere Medikamente zustande als die Großen.
"Sie kommen da irgendwann in eine Größenordnung, die nicht mehr so leicht zu managen ist", sagt Bayer-Chef Werner Wenning: "Kleinere, fokussierte Firmen haben oft eine höhere Produktivität in der Forschung." Mit einem Pillen-Umsatz von mehr als elf Milliarden Euro zählt Bayer, das 2007 ebenfalls ein Medikament wegen Nebenwirkungen vom Markt nehmen musste, zu den mittelgroßen Anbietern.
Im Vergleich zu anderen Branchen steht die Pharmaindustrie zwar noch gut da. Die Umsätze steigen, die Margen liegen oft bei 20 Prozent und mehr. Dennoch: Die Probleme häufen sich. Die Medikamentenschwäche ist nicht die einzige Herausforderung für die Konzerne. Milliardenumsätze gehen verloren, wenn demnächst etliche wichtige Patente ablaufen. Die Unternehmen kämpfen einerseits gegen Billig-Konkurrenten, die ihre Pillen nachbauen, und auf der anderen Seite gegen Regierungen und Krankenkassen, die niedrigere Preise für ihre Wähler und Versicherten fordern. IMS Health, das führende Marktforschungsinstitut der Branche, rechnet für 2008 nur noch mit einem weltweiten Wachstum von fünf bis sechs Prozent - schon in den vergangenen Jahren schrumpften die Zuwächse.
Entsprechend reagiert die Branche: Allein zehn große Unternehmen haben im vergangenen Jahr Stellenstreichungen an gekündigt - von ihren 732 500 Arbeitsplätzen fallen demnächst 50 000 weg. Beim Weltmarktführer Pfizer sind es 10 000 Stellen; Bayer Schering Pharma baut über 6 000 Jobs ab; der Schweizer Novartis-Konzern fast 4 000. Insgesamt etwa 1,1 Milliarden Euro will allein Novartis in den nächsten Jahren einsparen. Dazu sollen auch Hierarchien geschleift, Entscheidungen beschleunigt werden.
Ende vergangenen Jahres bauten die Schweizer ihre Forschungskooperation mit dem deutschen Biotech-Unternehmen Morphosys aus: Die Münchner sollen für Novartis Antikörper gegen Krebszellen finden. "Das ist natürlich auch ein Weg, um der Forschungsmisere zu entkommen", sagt Unternehmensberater Brückner: "Die Konzerne verlagern die Forschung in kleinere, produktivere Biotech-Unternehmen. Später, wenn es an die Entwicklung und Vermarktung der Substanzen geht, können die Konzerne dann wieder ihre Größenvorteile ausspielen." Eine ähnliche Kooperation hat auch gerade Sanofi-Aventis mit dem amerikanischen Biotech-Unternehmen Regeneron vertieft.
Es dürfte noch Jahre dauern, bis sich der neue Kurs für die Konzerne auszahlt doch eine Alternative gibt es nicht. So hat GlaxoSmithKline seine Forschung und Entwicklung völlig neu organisiert: Kleinere, schlagkräftigere Einheiten sind entstanden. Die Forscher arbeiten nicht mehr an einzelnen, abgetrennten Projekten, sondern haben jetzt ganze Krankheitsgebiete im Blick. Gleichzeitig müssen Wissenschaftler auch unternehmerische Entscheidungen treffen - über Budgets und Prämien.
"Wir können die Dinge nun sehr schnell vorantreiben", sagt etwa Jackie Hunter, die an einem Forschungszentrum des Konzerns in der Nähe von London das Arbeitsgebiet "Neurologie und Magen-Darm-Krankheiten" leitet, "wenn ich heute für ein spannendes Projekt 20 neue Chemiker einstellen will, dann kann ich das tun. Früher habe ich zahlreiche Konferenzen gebraucht, um das durchzusetzen.“ Ähnlich wie GlaxoSmithKline ordnen nun auch andere Konzerne, etwa Pfizer, ihre Forschung und Entwicklung neu. Sie müssten dabei noch mutiger vorgehen, findetJochen Duelli, Pharmaexperte bei der Beratung Bain: "Wenn die Unternehmen wirklich etwas verändern wollen, dann müssen sie ihren Forschern viel mehr Freiheiten lassen. So wie bei Genentech."
Das kalifornische Unternehmen gehört zum Schweizer Pharmakonzern Roche, der sich aus der Arbeit der Forscher und Entwickler bei seiner amerikanischen Tochtergesellschaft allerdings weitgehend heraushält. Genentech-Forscher machen sowieso, was sie wollen. Häufig jedenfalls: Die Biotech-Wissenschaftler dürfen während ihrer Arbeitszeit auch an eigenen Ideen tüfteln, an Projekten, die nicht vom Unternehmen vorgegeben sind.
Die Ergebnisse können sich trotzdem, oder gerade deswegen, sehen lassen: Mehr als ein Dutzend neuer Medikamente haben die Genentech-Labors hervorgebracht. Vor allem wichtige Krebsmedikamente, wie das Darmkrebspräparat Avastin. Der Harvard-Ökonom Gary Pisano hat errechnet, dass Genentech in der Vergangenheit - gemessen an den Ausgaben für Forschung und Entwicklung fast doppelt so viele Wirkstoffe am Markt lanciert hat wie der ungleich größere US-Konzern Merck.
"Ein Forscher muss 30 Prozent seiner Zeit zur Verfügung haben, um nicht projektbezogen zu arbeiten", fordert Duelli. Nur dürfte sich das bei Novartis oder Pfizer kaum durchsetzen lassen: "Dort sind die Leitplanken viel enger", sagt Duelli. Die Aktionäre wollen endlich neue Medikamente auf dem Markt sehen, damit die schlaffen Kurse wieder in Schwung kommen.
Solche Sorgen hat Boehringer Inge!heim nicht: Der rheinland-pfälzische Hersteller, die Nummer 15 der Weltrangliste, ist als Einziger unter den großen Pharmaunternehmen der Welt noch in Familienbesitz. Da von der Börse kein Druck kommt, können die Forscher ruhiger arbeiten als anderswo. Sie sind erfolgreicher als Weltmarktführer Pfizer und haben Top-Medikamente etwa gegen Atemwegserkrankungen, Bluthochdruck und Prostatakrebs gefunden. Boehringer-Wissenschaftler seien kreativer und selbstständiger, heißt es anerkennend in der Branche. Im vergangenenJahr ist das Unternehmen wieder stärker als der Markt gewachsen. Zum siebten Mal in Folge.
An großen Übernahmen hat Unternehmenschef Alessandro Banchi kein Interesse gezeigt. Selbstbewusst tritt er in der Branche auf. Und zum Weltmarktführer fällt ihm nur das ein: "Das Pfizer-Modell ist fehlgeschlagen." |