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Enthüllung von Seymour Hersh zu Nord-Stream-Anschlägen: Angst vor der Wahrheit
Meinung - Der US-Journalist Seymour Hersh recherchiert, wer die Nord-Stream-Pipelines in die Luft gesprengt hat. Aber niemand will es wissen. Warum eigentlich?
Wolfgang Michal
Die Enthüllungsstory tauchte so plötzlich über Washington auf wie ein chinesischer Ballon. Der US-Reporter Seymour Hersh, seit mehr als 50 Jahren berühmt für seine Recherchen, hatte ihn vergangene Woche steigen lassen, und die US-Regierung zögerte nicht, auch diese Bedrohung sofort abzuschießen.
Hersh hatte enthüllt, wie und mit welcher Hilfe der US-Geheimdienst CIA die deutsch-russischen Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee zerstörte. Er beschrieb Planung und Durchführung, nannte Beteiligte und Eingeweihte – allerdings nur auf eine einzige anonyme Quelle gestützt. Sie sei aber, so Hersh, an der Einsatzplanung beteiligt gewesen. Das konnte die US-Regierung nicht so stehenlassen. Der Nationale Sicherheitsrat nannte Hershs Geschichte „völlig falsch und frei erfunden“. Und die CIA versicherte, Hershs „Behauptung“ sei „völlig und vollkommen falsch“.
Trotz dieser doppelt gemoppelten Ableugnung wurden die Medien nicht stutzig, nein, sie klatschten begeistert Beifall und lieferten die passende Einschätzung: Der Ballon sei geplatzt, alles nur heiße Luft. Journalisten, die sonst die Recherche zum Herzstück ihrer Profession erklären, beteten treuherzig nach, was die Pressestellen der Regierung vorgaben.
Besonders eifrig gebärdeten sich die deutschen Medien, und hier vor allem die transatlantisch orientierten. Sie schossen weniger auf die Story als auf deren Überbringer und ließen kein gutes Haar an dem Mann, den sie bis vor Kurzem noch als „lebende Legende“ gefeiert hatten. „Pulitzerpreisträger auf Abwegen“, mäkelte die taz, von „fragwürdiger Recherche“ unkte die Zeit, und nie vergaßen die medialen Schnellrichter, ein paar gehässige Abwertungsvokabeln mit einzuflechten: „umstrittener US-Journalist“, „wenig glaubwürdig“, „substanzlos“, „Steilvorlage für Russland“. Die Süddeutsche Zeitung, die dem „begnadeten Einzelkämpfer“ 2019 noch ein hymnisches Porträt gewidmet hatte, bezeichnete Hersh nun als „abgeglittenen Ex-Star des investigativen Journalismus“.
Es handelt sich bei solchen Ehrverletzungen um eine spezielle Art des Abwehrzaubers, weil, wie schon Palmström wusste, „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Die Story musste eine bösartige Fälschung sein oder Feindpropaganda – von Wladimir Putin persönlich diktiert. Und wenn nicht, ist’s eine „krude Verschwörungstheorie“, die im Kopf eines senilen „Ex-Stars“ herumspukt. Wurde Hersh nicht schon 1969, nach der Enthüllung des My-Lai-Massakers, als Verräter und Kommunist entlarvt? Hatten die etablierten Medien nicht damals schon solche Angst vor den Fakten, dass er seine Geschichte in der kleinen Hippie-Klitsche Dispatch News Service veröffentlichen musste? Und ist ein Großteil der jetzigen Herabwürdigung nicht vor allem auf die Aktivitäten des britisch-niederländischen Recherche-Kollektivs Bellingcat zurückzuführen?
Natürlich wäre es denkbar, dass russische Geheimdienste, die sicher in Brigadestärke an der Aufklärung der Pipeline-Sprengung arbeiten, ihre Ermittlungsversion über einen unverdächtigen Mittelsmann an Hersh durchgestochen haben, aber wäre das auch plausibel? Ist der alte Hase nicht viel zu erfahren, um als bloßer Wasserträger von Informanten zu dienen und deren Fakten ungeprüft zu übernehmen? Ist es nicht eher so, dass Journalisten einfach nicht wahrhaben wollen, was in der Hersh-Story steht? Es ist ja auch unbegreiflich, dass bislang kein Medium Interesse am Tathergang zeigt.
Was zum Beispiel hat das deutsche Flottendienstboot Alster, ein Spionageschiff der Extraklasse, vollgestopft mit elektronischen, hydroakustischen und elektro-optischen Sensoren, das zur fraglichen Zeit in der Ostsee patrouillierte, vor und nach dem Attentat registriert? War ein Minensuchboot der norwegischen Marine im beschriebenen Zeitraum vor Bornholm? Wo hielten sich am 26. September die fünf norwegischen P8-Überwachungsflugzeuge auf? Warum verweigerten die Schweden, die angeblich als Erste am Tatort waren und Beweismaterial sicherten, der Bundesregierung jede Teilhabe an den Ergebnissen? Und warum führt die Tatsache, dass die Sprengung der Pipelines unmittelbar vor der Eröffnung der norwegischen Baltic Pipe erfolgte, nicht zu neugierigen Fragen? Schließlich zählt Norwegen zu den Hauptprofiteuren der Nord-Stream-Sabotage.
Man kann diese Fragen als „abwegig“ abtun, aber Fragen stellen ist nun mal das Kerngeschäft des Journalismus, egal wie dumm oder naiv sie wirken mögen. Die deutschen Kritiker aber scheinen zu erwarten, dass Hersh einen handschriftlichen Zettel Joe Bidens aus der Tasche zieht, auf dem, mit Datum und Präsidentenstempel versehen, in krakeliger Schrift steht: „Liebe CIA, sprengt das Ding in die Luft!“ Was würde denn geschehen, könnte Hersh tatsächlich Dokumente vorlegen? Würde Deutschland aus der NATO austreten? Nein. Würde die US-Airbase Ramstein geschlossen? Keineswegs. Die Bundesregierung würde nicht einmal Schadenersatz verlangen oder mit Sanktionen drohen.Aufgrund der absehbaren Nicht-Reaktion würde die ganze Welt über Deutschland lachen. Der Respekt, von dem der Bundeskanzler so gern spricht, wäre dahin. Schon deshalb will hierzulande (fast) niemand wissen, wer die Pipelines denn nun in die Luft gejagt hat.
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