So sind sie
Ein Schandsieg, über den man froh sein kann: Italien feiert
VENEDIG, 10.Juli
Fußball kann eine Gesellschaft nicht verändern. Aber dieser Sport kann auf wundersame Weise abbilden, was in einer Gesellschaft gerade passiert. Nicht nur die Deutschen, die unter Klinsmann den allgegenwärtigen Reformstau wegzufeiern versuchten, haben das in den vergangenen Wochen erlebt. Auch die Italiener betrachten am Morgen nach der großen Weltmeisterfeier verwundert ein Spiegelbild, das ihnen der Fußball zeichnet: Weltklasse und zweite Liga in einem, Helden für die Geschichte und Betrüger für den Knast, seriöse Arbeiter und windige Medienpopulisten. Was für ein verzücktes, was für ein verrücktes Land!
Um eine weltmeisterliche Truppe zu schmieden, brauchen Italiener offenbar weder amerikanische Fitnesstrainer noch Sportpsychologen. Ihnen reichten als Motivationsmix ein Rudel gekaufter Schiedsrichter, Vereine kurz vor dem Bankrott, abgetretene Funktionäre, ausbleibende Fernsehgelder - kurz: eine Fußballindustrie nahe dem Kollaps. Franz Beckenbauers Unkenrufe vor dem Turnier, die Italiener würden die Quittung für ihren heimischen Saustall einstecken müssen, bewahrheitete sich auf gespenstisch gegensätzliche Weise. Daß Sportler oft nur unter existenziellem Druck ihre Höchstleistungen vollbringen, gehört zu den ungeschriebenen Regeln eines überbezahlten Gewerbes. Während Spanier, Engländer, Brasilianer entspannt und mit geringstmöglichem Aufwand scheiterten, spielten die Italiener ohne Clubs, ohne funktionierenden Verband und mit ungewisser Zukunft um alles.
"Ohne die Skandale hätten wir nie gewonnen." Diese Analyse trug im Siegesrausch der Kopf des Teams vor, Gennaro Gattuso. Wahrscheinlich hat er recht, und doch äußert sich darin eine perverse italienische Anthropologie. Wir brauchen den Stimulus, über den eigenen Sumpf hinwegzuspringen. Und vor allem: Erst nachdem wir unlauter versucht haben, die Regeln zu manipulieren, macht es uns Freude, sie zu akzeptieren. So sind wir eben.
Solche Resignation spricht aus vielen Kommentaren. Und keine Rede, daß dieses Turnier frei von Kungeleien gewesen sei. Mit dem Schiedsrichter Massimo de Santis war ein korrupter Hauptmanipulator bereits für die WM nominiert; mit ihm mußte die gesamte, in getürkte Spiele eingeweihte Verbandsspitze abtreten. Nationaltrainer Lippi hatte seinen Sohn bei der windigen Spieler-Agentur Gea untergebracht und der Torwart gerade 1,6 Millionen Euro schwarz verwettet. Sehen so Vorbilder für die Jugend aus? Unbestechliche Kämpfer im Wettbewerb des Weltmarktes? Wagemutige Reformer gar? In diesem Milieu mächtiger Strippenzieher und des schillernden Fußball-Polit-Moguls Berlusconi sind diese Weltmeister groß und stark geworden. Statt wehmütig zu spekulieren, was die Athleten ohne den Klotz solcher Klientelwirtschaft am Bein noch alles hätten leisten können, nutzte man in Italien die schmierige Mißwirtschaft lieber als moralische Antriebshilfe.
Und so starren die Italiener voll delirierender Bitterkeit auf ihr gebrochenes Spiegelbild. Ihre Stars und Trainer haben Weltniveau gezeigt, doch wird die italienische Klasse in den kommenden Wochen auf die heißumkämpften Märkte in Madrid, Manchester, München exportiert, nicht anders als die begehrten italienischen Anzüge und Schuhe, Weine und Nudeln, Luxuslimousinen und Möbel. Während ihr Dolce-vita-Kapitalismus noch floriert, befindet sich die italienische Volkswirtschaft wie auch die Bevölkerungszahl auf unaufhaltsamem Sinkflug.
Laut einer europäischen Umfrage gibt es auf dem Kontinent kein anderes Volk mit so vielen Unglücklichen, die sich von Staat und Gott und Mitmenschen verlassen fühlen und für die Zukunft rabenschwarz sehen. Das ist die oft übersehene Kehrseite der Medaille mit den hüpfenden Bikinimädchen im Fernsehen, der vermeintlich mittelmeerischen Lebensfreude und Feierlaune, die offenbar nach Norden gezogen ist. Eine Londoner Investmentbank hatte vor dem Turnier das Land ausgerechnet, das gemäß seinen schlechten makroökonomischen Rahmenbedingungen den WM-Titel am dringendsten benötigt; Italien siegte knapp vor Deutschland und Frankreich. Der Sport, das unbestechliche Abbild der Mentalitätsgeschichte, hat diese Analyse nur noch nachgespielt.
"Merkwürdig, daß eine so gewöhnliche Bewegung wie der Tritt hinter einen Ball eine Anzahl von ziemlich präzisen Informationen über uns und unsere Existenz enthält: wer wir sind, was wir wollen und wie wir es erreichen." Diese Worte hat der Schriftsteller und Fernsehmoderator Diego Pesaola, Sohn eines Nationalspielers und berühmten Trainers, unter dem nom de plume Zap Mangusta in seiner Fußballphilosophie "Plato und das Gesetz des Balles" seinen Landsleuten erst dieses Frühjahr ins Stammbuch geschrieben. Und so fragen sie sich: Können wir irgendwann leben ohne Verfilzung und Kungelei? Oder ist Italien nur dann ganz groß, wenn es zugleich ganz klein ist? DIRK SCHÜMER
Text: F.A.Z., 11.07.2006, Nr. 158 / Seite 41
MfG§ kiiwii |