20. Januar 2011, 08:40 Uhr DHB-Niederlage gegen Frankreich Heiner hilflos Aus Kristianstad berichtet Erik Eggers
Körperlich unterlegen, spielerisch einfallslos, taktisch undiszipliniert - der WM-Auftritt der deutschen Handballer gegen Frankreich war peinlich. Die Krise des DHB-Teams könnte den Abschied von Bundestrainer Heiner Brand beschleunigen.
In der Stunde der sportlichen Finsternis erinnert man sich gern an die Sonnenseiten des Handball-Lebens. So erging es am Mittwochabend auch Bundestrainer Heiner Brand, als er seine Freude über die Fortschritte der südamerikanischen Handball-Entwicklungsländer bekundete. "Ich habe hier schönen Handball von Argentinien gesehen, und auch von Chile", sagte der 58-Jährige. "Da tut sich etwas."
Nun lässt sich wirklich nicht behaupten, dass im deutschen Handball derzeit nichts geschehe. Doch die aktuellen Ereignisse könnten sich bald zu einer der schwersten Krisen in der Geschichte des Deutschen Handballbundes (DHB) auswachsen. Die 23:30 (10:13)-Niederlage der Nationalmannschaft gegen Olympiasieger Frankreich war eine der heftigste Pleiten, die Brand seit seinem Amtsantritt 1997 einstecken musste. Vor dem letzten Vorrundenspiel am Donnerstag gegen Tunesien (18.30 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) droht sogar das vorzeitige Aus bei der WM in Schweden.
Das DHB-Team kann sich gegen die Nordafrikaner eine Vier-Tore-Niederlage leisten, vorausgesetzt, Ägypten siegt gegen Bahrain. Bei einer Qualifikation für die Hauptrunde in Jönköping würde das Team mit 0:4 Punkten aus den beiden Vorrundenniederlagen gegen Frankreich und Spanien starten. Damit hätte es nur noch theoretisch die Chance auf eine Medaille. Auch die Olympischen Spiele 2012 in London sind derzeit weit weg: Erst Platz sieben bei der WM berechtigt für das Qualifikationsturnier.
Nach dem traurigen Auftritt in der Kristianstad-Arena will kaum noch jemand an den Einzug ins Halbfinale glauben. Denn die Franzosen waren am Spielende noch gnädig. Um Kräfte zu sparen, schickten sie die Ersatzspieler aufs Feld und ließen es in der Abwehr lockerer angehen. Wenn das Team von Trainer Claude Onesta sein Spiel durchgezogen hätte, wäre Deutschland womöglich mit 15 Toren untergegangen.
Frankreich gegen Deutschland ist wie Baum gegen Zahnstocher
Das DHB-Team verspielte in der Kristianstad-Arena nicht nur seinen Ruf. In den letzten Minuten zeigten sich einige Profis auch noch als schlechte Verlierer. So schlug Michael Haaß von Frisch Auf Göppingen dem Star der Franzosen, Nikola Karabatic, in der 49. Minute die Faust ins Gesicht. Dafür bekam Haaß zur Überraschung der Zuschauer nicht die Rote Karte, sondern nur eine Zeitstrafe. Nach dem Spiel sagte der Mittelmann: "Ich hatte das Gefühl, dass ich mal meinen Körper dagegenhalten musste. Bei den Franzosen bringt ja jeder Einzelne 20 Kilogramm mehr auf die Waage."
In der Tat ist das Duell gegen Frankreich körperlich seit Jahren ein Kampf mit ungleichen Waffen. Stehen der französische Abwehrchef Didier Dinart und der Lemgoer Kreisläufer Sebastian Preiß nebeneinander, dann wirkt das wie ein Vergleich zwischen Baum (Dinart) und Zahnstocher (Preiß). Gäbe es im Handball wie im Ringen oder im Boxen Gewichtsklassen, dürften die Deutschen im Fliegengewicht antreten, während die Franzosen im Superschwergewicht kämpfen müssten.
Auch Brand beklagte die körperliche Unterlegenheit seines Teams - aber auch, dass seine Angreifer nach der Pause diesen ungleichen Kampf nicht mehr angenommen hatten. "Man muss vorne seinen Körper mal zeigen, auch wenn es weh tut", sagte Brand. So wie es bei den Franzosen auch ein Karabatic macht, um Präsenz und den Willen zu zeigen, das Spiel unbedingt gewinnen zu wollen.
Aber es ist nicht nur die Physis. Auch in der Spielkultur ist der deutsche Handball Welten von den Franzosen entfernt. Klare Angriffskonzepte, durchdachte Spielzüge, ein strukturierter Plan auch für den Fall, dass etwas schiefgeht - all dies hatte die Brand-Teams jahrelang ausgezeichnet. Gegen Frankreich war nichts davon zu sehen. "Man hatte den Eindruck, dass keiner weiß, was der Andere macht", klagte Haaß.
Vielleicht brachte die Probleme des deutschen Handballs niemand besser auf den Punkt als Bertrand Gille, der französische Kreisläufer in Diensten des HSV Hamburg. Wenn etwas schieflaufe im deutschen Spiel, "dann gibt es niemand, der aufsteht und sagt, es muss sich etwas ändern". Zu beobachten, dass der Gegner ahnungslos auf dem Feld herumgeirrt sei, das sei ein "geiles Gefühl" gewesen, sagte Gille. So war es wirklich: Die deutschen Angriffe erinnerten in der zweiten Halbzeit an Lemminge, die im Tempo auf Klippen zurennen, um sich ins Verderben zu stürzen.
Vier Jahre nach dem Wintermärchen, dem vielumjubelten Triumph bei der WM im eigenen Land, steht der deutsche Handball am Scheideweg. Brand hatte angekündigt, 2013 als Bundestrainer aufhören zu wollen. Nun scheint nicht mehr ausgeschlossen, dass er bereits nach dem Turnier in Schweden abtritt. Kapitän Pascal Hens mag daran noch nicht denken. "Heiner", sagt Hens, "ist für mich unantastbar."
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