22.09.2002 23:12 Claus Leggewie „Vier bleierne Jahre?“ Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie beklagt in einem Beitrag für sueddeutsche.de amerikanische Verhältnisse und warnt vor einer Lähmung der Politik in Deutschland. Von Claus Leggewie Claus Leggewie, Professor für Politikwissenschaft Universität Gießen, Direktor des dortigen Zentrums für Medien und Interaktivität (dpa )
Jetzt haben wir wirklich „amerikanische Verhältnisse“: eine spannende Wahlnacht, in der jede Stimme zählt. So knapp, wie die Bundestagswahl 2002 ausgegangen ist, scheint alles auf eine Grosse Koalition hinauszulaufen. Wird die Kanzlerschaft Gerhard Schröders eine Episode und Rot-Grün auf Bundesebene nur eine Fußnote der verrückten Milleniumswende sein? Verdient hat die Regierung Schröder/Fischer das nicht: Sie hat mehr vom „Reformstau“ abgetragen, als ihr die meisten zugetraut haben, und sie hat in Sachen Energie- und Umweltpolitik, beim Verbraucherschutz und in der Einwanderungspolitik einiges auf den Weg gebracht, was eine Fortsetzung verdient hätte.
Aber Rot-Grün hat die Deutschen und nicht einmal ihre eigene Basis dafür erwärmen können, die Wahlbeteilgung ist sogar zurückgegangen Vor allem die Sozialdemokratie macht programmatisch und personell einen ausgezehrten, oft erbärmlichen Eindruck – buchstäblich bis zur letzten Minute hielt ihre unseriöse Selbstdarstellung mit einem peinlichen Hitlervergleich an. So jedenfalls schafft man die europäische Trendwende nicht. Vor vier Jahren noch sah alles nach einem „rot-grünen Jahrzehnt“ aus, jetzt regieren fast überall Mitte-Rechts-Koalitionen. Nur mit einem überzeugenden Sieg wäre von Deutschland ein Signal ausgegangen. Auch Stoiber und Westerweille haben keinen klaren Regierungsauftrag der deutschen Wählerschaft bekommen, vermutlich übrigens, weil Stoiber nicht konservativ genug war. So reichte es nur, die bei der FDP geparkten und mangels Führungsstärke und Profil verlorenen bürgerliche Stimmen (plus einiger Globalisierungsverlierer von der SPD) zurückzugewinnen, nicht aber zu einer neuen Ära für die Union. Am Ende werden viele sich fragen, ob Angela Merkel nicht doch besser gewesen wäre, weil sie auch bei den Frauen gepunktet hätte.
Und aus dieser Lähmung der beiden Großen soll eine Koalition hervorgehen, die Deutschland voranbringt? Eine Grosse Koalition würde Besitzstände wahren und vor allem gut organisierte Interessen zufriedenstellen, aber für einschneidende Reformen braucht man die lebendigeren kleinen Partner. Hier haben die Grünen einen klaren Vorsprung, auch Wertkonservative und die bürgerliche Mitte ahnen, dass die wirklichen Reformen im Klimaschutz und in der Agrarwende liegen, um nur zwei Beispiele zu nenne, wo eine Grosse Koalition wenig zustandebringen würde.
Und wenn es für Rot-Grün nicht reicht? Dann könnten auch die beiden Gewiner der Wahl miteinander koalieren, also eine schwarz-grüne Regierung gebildet werden. Dafür spricht inhaltlich einiges. Doch beide Parteiführungen haben die letzten zehn, fünfzehn Jahre alles getan, um diese Option auszuschließen. Und weil sich alle in ihren „Lagern“ eingebunkert haben, drängt sich jetzt als schlechteste aller Koalitionen angeblich die schwarz-rote auf, wovon wir in der Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern ohnehin schon zuviel haben. Eine „spannende Wahlnacht“ – und vier bleierne Jahre?
(sueddeutsche.de) |