FRANKFURT. „Wir haben eine ernste Kreditklemme im Finanzsektor, da ist ein Signal absolut fehl am Platz, dass man die Kreditkonditionen noch straffen will“, sagte Thomas Mayer von der Deutschen Bank. Diese Einschätzung vertreten acht von zehn Europa-Chefvolkswirten großer Banken, die das Handelsblatt gestern befragt hat.
Der EZB-Rat hatte am Vortag überraschend betont, die Äußerung des EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet von Anfang August sei nach wie vor gültig. Trichet hatte damals erklärt, die Notenbank beobachte mögliche Risiken für die Preisstabilität sehr „wachsam“. Mit diesem Signalwort hatte der Notenbankchef die Absicht der EZB erkennen lassen, auf der Ratssitzung am 6. September den Leitzins von vier Prozent auf 4,25 Prozent anzuheben.
„Jetzt, wo die EZB nochmals eine Zinserhöhung angekündigt hat, muss sie den Schritt wohl auch gehen“, sagte Holger Schmieding von der Bank of America. „Ich kritisiere aber, dass die EZB sich ohne Not in eine solche Zwickmühle gebracht hat.“ Nur zwei Europa-Chefvolkswirte sagten, wenn sich die Kreditkrise schnell auflöse, könne eine Zinserhöhung angebracht sein. Die französische Regierung hatte der EZB sogar am Mittwoch nahegelegt, den Leitzins zu senken. Die Bundesregierung lehnte mit Verweis auf die Unabhängigkeit der EZB eine Stellungnahme ab.
„Der Bankensektor ist ganz zentral für die Wirtschaft“, begründete Jacques Cailloux von der Royal Bank of Scotland die Kritik der Volkswirte an dem Vorhaben der EZB, den Leitzins im September anzuheben. Da die Geschäftsbanken künftig bei der Kreditvergabe selbst restriktiver vorgehen müssten und die Refinanzierung für Unternehmen und Privathaushalte schwieriger werde, sollte die Notenbank die Lage nicht weiter verschärfen.
Kritik an der EZB kam auch von Ratingagenturen. Der Europa-Chefvolkswirt von Standard & Poor’s, Jean-Michel Six, sagte, selbst wenn man die gegenwärtige Finanzkrise ausblende, sei eine Zinserhöhung nicht notwendig. Es spreche nichts dafür, dass die Teuerungsrate wesentlich über das Inflationsziel der EZB von zwei Prozent hinausgehe. Außerdem sei das Wirtschaftswachstum nicht überbordend.
[Aber M3 wächst gigantisch - A.L.]
Dennoch gehen die meisten Marktteilnehmer jetzt davon aus, dass die Anhebung des Leitzinses auf 4,25 Prozent im September kommen wird. Den Zinstermingeschäften zufolge besteht dafür eine Wahrscheinlichkeit von 55 Prozent. Am Mittwoch war die Wahrscheinlichkeit vor dem Kommuniqué des EZB-Rats nur auf 20 Prozent taxiert worden.
Zustimmung erntete die EZB dagegen für ihre Liquiditätsspritzen in das Bankensystem. Außer der Reihe versteigerte sie am Donnerstag Dreimonatsgeld im Volumen von 40 Mrd. Euro. Damit versuchte die EZB, die aus der allgemeinen Vertrauenskrise resultierenden Kreditprobleme im Bankensektor zu entschärfen. Die Bank von Japan, die ähnlich wie die EZB geplant hatte, ihren Leitzins von derzeit 0,5 Prozent anzuheben, verzichtete gestern auf diesen Schritt. Notenbankchef Toshihiko Fukui begründete diese Entscheidung damit, dass die Unruhe an den Märkten andauern werde. Er machte aber auch deutlich, dass der niedrige Leitzins problematisch sei, weil er Anleger zu übermäßig riskanten Investments verführen könnte.
Kronzeugin der EZB-Kritiker ist die US-Notenbank (Fed), die in der vergangenen Woche den Diskontsatz von 6,25 auf 5,75 Prozent gesenkt hat. Analysten und Marktteilnehmer rechnen überwiegend damit, dass die Fed spätestens am 18. September auch ihren wichtigsten Leitzins, der derzeit bei 5,25 Prozent liegt, senken wird.
Andere Zentralbanken haben die Turbulenzen an den Märkten allerdings nicht daran gehindert, Leitzinsen anzuheben. In den letzten Tagen erhöhten etwa die Notenbanken von Norwegen, Australien, China und Südafrika die Leitzinsen. Angesichts starken Wachstums wollten sie steigendem Inflationsdruck entgegenwirken.