Den Begriff „nonbinär“ kennt man vornehmlich aus dem Bereich der Geschlechtsidentitäten. Doch kann uns das Denken jenseits gegensätzlicher Kategorien beispielsweise auch im Kampf gegen den Klimawandel helfen, meint Michael Ebmeyer.
von Michael Ebmeyer )29 Juni 2023)
Der Begriff „nonbinär“ ist seit einigen Jahren immer häufiger zu lesen und zu hören. Er zählt zum Schlagwortschatz einer Emanzipationsbewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, „die Geschlechter-Binarität in Verwirrung“ zu bringen, und die eine „Vervielfältigung“ der „kulturellen Konfigurationen von Geschlecht und Geschlechtsidentität“ anstrebt. So formulierte es vor gut drei Jahrzehnten die Philosophin Judith Butler. Ihr Buch Gender Trouble (in der deutschen Übersetzung Das Unbehagen der Geschlechter), aus dem die Zitate stammen, zählt zu den wichtigsten Grundlagen des Trans-Aktivismus und des Queer-Feminismus.
Anstatt an einer binären Geschlechterordnung festzuhalten – einem strikten Entweder-oder von männlich und weiblich –, bringen diese Strömungen das Nonbinäre zur Geltung: das, was sich dem Entweder-oder entzieht oder einen Raum zwischen entweder und oder in Anspruch nimmt. Dem Gender-Aktivismus geht es um die gesellschaftliche Anerkennung von Transpersonen, von queeren und fluiden Geschlechtsidentitäten. Das Konzept des Nonbinären ließe sich aber auch für andere Bereiche der gesellschaftlichen Debatte und der politischen Praxis nutzbar machen. Es kann Auswege eröffnen aus der Sackgasse des Herrschaftsdenkens.
TRADITIONELLE ORDNUNG „IN VERWIRRUNG“ BRINGEN Nonbinär ist nicht das Gegenteil von binär, sosehr die ritualisierte Empörung über den vermeintlichen „Genderwahn“, wie sie die politische Rechte und Teile des liberalen Spektrums pflegen, diesen Eindruck auch erwecken will. Nonbinär sind Denkfiguren und Realitäten, die sich nicht in das binäre Schema einfügen. Das binäre Schema – ein Denken in Gegensätzen – prägt unsere Wahrnehmungen und Urteile. Dichotomien wie Leben/Tod oder Tag/Nacht haben existentiellen Charakter. Andere, wie heiß/kalt oder stark/schwach, sind kontextabhängig. Viele weitere, etwa Mensch/Tier, Natur/Zivilisation oder zugehörig/fremd, sind willkürliche Zuschreibungen.
Binäre Unterscheidungen als eine Orientierungshilfe in der Welt zu verwenden, liegt nahe. Dass sie aber zum wichtigsten Leitfaden unseres Denkens und sozialen Handelns wurden, war keine zwangsläufige Entwicklung. Platons Ideenlehre und Aristoteles’ praktische Philosophie erhoben das binäre Schema zur kognitiven Norm. Sie setzten sich damit gegen andere Denkschulen, wie die Kyniker und die Sophisten, durch. Doch erst verknüpft mit religiösen Heilslehren entfaltete das binäre Schema seine ganze Macht. Mensch/Gott, Himmel/Hölle, Christen/Heiden, Muslime/Ungläubige: Maßgeblich wurden solche binären Unterscheidungen, die sich als Variationen der Dichotomie von Herrschaft und Unterordnung beschreiben lassen. Bis heute steht das binäre Schema in einem symbiotischen Verhältnis zum Prinzip Herrschaft. Selbst mit dem Abschied von göttlichen Instanzen änderte sich daran wenig. Anstelle der traditionellen Religion tritt dann zum Beispiel die „Marx’sche Kirche“, wie die Anarchistin Emma Goldman spottete.
Im Fall der „Geschlechter-Binarität“ ist die Symbiose mit dem Prinzip Herrschaft notorisch: Sie begründet und trägt das Patriarchat. Die Anerkennung des Nonbinären, wie sie der Gender-Aktivismus fordert, bringt somit nicht nur eine traditionelle Ordnung „in Verwirrung“. Sie entzieht dem männlichen Machtanspruch die Grundlage. Wo das Nonbinäre nicht mehr verleugnet wird, tritt die Willkür des Herrschens zutage. Daher die wütende Angst vor dem Nonbinären. Die emanzipatorische Sprengkraft des Gender-Aktivismus liegt nicht allein in der Vervielfältigung von Geschlechtsidentitäten. Er zeigt modellhaft, dass herrschaftslose Alternativen zum binären Schema möglich sind.
OHNE GEGENSÄTZE FÜR DAS KLIMA? Tauschen wir „nonbinär“ gegen ein anderes, aber fast synonymes Buzzword aus – „divers“ –, kann klarer werden, welche Potentiale zur Lösung drängender Probleme dieser Ansatz auch über die Demontage patriarchaler Strukturen hinaus birgt. Stünde, um das drastischste Beispiel zu nennen, im Umgang mit der Erderhitzung der Erhalt der (Bio-)Diversität im Fokus, statt dass „unsere Lebensweise“ in einem zerstörerischen Gegensatz zur Bewahrung unserer Lebensgrundlagen verharrt, wäre die Klimakatastrophe noch gut abzuwenden. In den Forderungen von Gruppen wie der Letzten Generation oder Fridays for Future artikuliert sich ein nonbinäres Denken. Der zivile Ungehorsam der „Klimarebellen“ ist ein Ungehorsam gegenüber – oder eben nicht „gegenüber“ – dem binären Schema.
Können sich die Bewegungen hin zum Nonbinären ausweiten? Oder werden sie nun doch erst einmal niedergebrüllt und verunglimpft, bis alle „Klimaziele“ verfehlt sind und das Prinzip Herrschaft zwar weiter intakt, die Erde aber für Menschen weitgehend unbewohnbar ist? Es liegt an uns. •
Michael Ebmeyer ist Schriftsteller und Übersetzer. Neben Romanen wie „Landungen“, „Der Neuling“ und „Plüsch“ hat er Sachbücher zu Themen wie Fußball und Katalonien veröffentlicht. Sowie zuletzt, im Juni 2023, „Nonbinär ist die Rettung. Ein Plädoyer für subversives Denken“ (Reihe Update Gesellschaft, Carl-Auer-Verlag).
Quelle: https://www.philomag.de/artikel/wie-waere-es-nonbinaer |