Der Mann ohne Eigenschaften: Gerhard Schröder Porträt von Torsten Krauel
Vor einem Vierteljahrhundert wurde er Bundesvorsitzender der Jungsozialisten. Im kommenden Herbst ist er seit einem halben Jahrzehnt der Bundeskanzler. Gerhard Schröder kann sich zum Inventar der Bundesrepublik zählen. Aber im öffentlichen Bewusstsein wird er nicht als Hüter der Tradition angesehen. Kaum ein Amtsinhaber vor ihm, Willy Brandt vielleicht ausgenommen, hatte dermaßen abrupt und dermaßen weit schwankende Zustimmungswerte zu verzeichnen wie Schröder. Kaum ein anderer Bundeskanzler ist in Erfolgsphasen so abwartend bis misstrauisch gelobt und in Krisenphasen so bereitwillig als bereits gescheitert beschrieben worden. Helmut Kohl hat das zwar in seinen ersten fünf Jahren ebenfalls erlebt, aber Kohl hatte sich damals noch nicht die Aura eines Machtpolitikers erworben.
Gerhard Schröder umgab diese Aura von Anfang an. Er ist ihretwegen ja 1998 erst an die Macht gelangt. Aber was ist seither geschehen? Vieles, und doch eigentlich nichts. Kaum ein anderer Bundeskanzler hat sein Kabinett politisch und persönlich so sehr dominiert und es zugleich geschafft, sich von einer markanten in eine eher konturlose Gestalt zu verwandeln. Damit ist nicht gemeint, dass Schröder sich als durchsetzungsschwach erwiesen hätte. Gemeint ist: Der von einsamen Entschlüssen geprägte politische Weg des Bundeskanzlers Gerhard Schröders ist nach nur fünf Jahren aus dem Gedächtnis kaum noch rekonstruierbar.
Es gibt Film- und Bühnenwerke, die nach furiosem Anfang im Ungefähren verschwimmen und klammes Abwarten erzeugen, knapp oberhalb der Schwelle, an der man seinen Sitz vorzeitig verlässt. Gerhard Schröders Auftritt als Bundeskanzler ist bislang ein solcher Fall, und wie im Kino harrt das Publikum nur deswegen aus, weil es nicht glauben kann, dass der gerühmte Hauptdarsteller eine so verwechselbare Leistung auf sich beruhen lassen will. Irgendetwas Überraschendes muss doch noch kommen.
Schröders Irak-Kurs schien eine solche Überraschung zu sein. Sie bestand darin, dass er zum ersten Mal in seiner Amtszeit eine öffentliche Haltung länger als einige Monate durchhielt. Gerhard Schröder zeigte sich willens, nicht nur eine Position, sondern einen wirklichen Standpunkt einzunehmen. Seine Haltung schien sich langfristig und nachvollziehbar zu entwickeln - bis der Satz fiel, auch einen Krieg, den die UNO befürworte, abzulehnen. Da war sie wieder, die Schrödervolte, die Überspitzung. Es folgte sein Herumirren zwischen Paris, Moskau und Joschka Fischer. Das Nein zum Irak fiel zeitlich mit innenpolitischen Kurswechseln zusammen. Die Wandlung des Bundeskanzlers vom managerfreundlichen zum gewerkschaftsfreundlichen Auftreten im Sommer 2002 und sein abrupter Schwenk zurück im Winter 2003 hatten während der Irak-Krise stattgefunden. Untergründiges Misstrauen schwelt. War Schröders Wandel zum Pazifisten wirklich ernst gemeint?
So überrascht es auch nicht, dass sich in der SPD ein Protest gegen Schröders "Agenda 2010" zu regen beginnt, der heftiger ausgetragen zu werden verspricht, als es seine außenpolitische Haltung eigentlich erwarten ließe. Sie war in den Augen linker Parteimitglieder ein Verdienst, nährte aber in Kombination mit einem sozialpolitischen Rechtsschwenk ein unterschwelliges Gefühl, der Bundeskanzler sei keiner, der im Wahlkampf zu seinem Glauben zurückgefunden habe. Eher schien er langfristige Sehnsüchte und Hoffnungen zu nutzen, um nicht zu sagen auszubeuten. Das ist gerade für Linke ein Sakrileg. Die inhaltliche Sprunghaftigkeit, gekoppelt auch noch mit einem autoritären Auftreten Schröders gegenüber Kritikern, widerspricht allen Kernempfindungen von Menschen, die um einer langfristigen Idee willen in die Politik gegangen sind.
Wen haben wir eigentlich zum Bundeskanzler, zum Parteivorsitzenden, zum Bannerträger? Nahezu fünf Jahre nach seinem Amtseid als Kanzler ist die Frage in den Reihen der SPD anscheinend noch nicht so klar zu beantworten, dass sich dort der normale leidenschaftliche Meinungsbildungsprozess einer Volkspartei endlich einmal wieder ohne Vertrauensfragen, Putschversuche und letzte Worte vollziehen könnte. Seit Willy Brandts Rücktritt als Bundeskanzler hat es das in der SPD ja kaum mehr gegeben.
Helmut Schmidt: als Kanzler im Stich gelassen, dann einfach fallen gelassen. Willy Brandt: als Parteichef wegen einer Personalie so rüde und mit ausländerfeindlichen Untertönen kritisiert, dass er das Handtuch warf. Hans-Jochen Vogel: formal geordnet in das und aus dem Amt gewählt, aber zerrieben am Machtkampf mit Oskar Lafontaine. Björn Engholm: zurückgetreten wegen einer Korruptionsaffäre. Rudolf Scharping: Gestürzt von Oskar Lafontaine. Lafontaine: Putschartig in das Amt, putschartig aus dem Amt gelangt. Und nun streben welche an, Gerhard Schröder weniger abzulösen als zu stürzen, weil es in ihren Augen darum geht, eine Politik nicht zu beeinflussen, sondern um jeden Preis zu stoppen.
Mit Helmut Schmidts Nachrüstungs-Krise hat das Unbehagen wenig gemein. Damals glaubte die Mehrheit der Parteimitglieder zu wissen, wer Schmidt war: ein ihnen zu konservativer Regierungschef. Gerhard Schröder ist so nicht zu fassen. Er würde emphatisch abstreiten, im tieferen Sinne moralisch eigentlich unvereinbare Beschlüsse wie die Beteiligung am Kosovo- und die Totalablehnung des Irak-Krieges, oder die Rücknahme mancher Reformen des Kohl-Kabinetts und ihre nunmehr bevorstehende Wiedereinführung, seien tagespolitisch motiviert. Der Eindruck, dass es so sei, setzt sich aber fest, je länger der Bundeskanzler seinen Zickzackkurs fortführt.
Das mag vor allem daran liegen, dass Schröder für seine Politiken nach außen entweder keine über die tagesaktuelle Zweckmäßigkeit hinausweisende Begründung gibt oder aber gelegentlich eine autobiografische. Nie macht er in solchen Situationen einen Hehl daraus, sich seiner Herkunft sehr bewusst zu sein, und doch hat gerade dieser Hinweis etwas autokratisches an sich. Mich wollt ihr doch nicht etwa stürzen?! Während der Irak-Debatte ließ er manchmal andeutungsweise erkennen, wie sehr ihn die Entdeckung des Grabes und der erstmalige Besitz eines Fotos seines Vaters beeindruckt haben. Das ist mit Sicherheit eine authentische, tief empfundene Emotion. Als zusätzliche Politikbegründung wäre sie den Kritikern sehr willkommen - wenn eine solche Gerechtigkeit vor der Geschichte nicht gleichzeitig durch den von ihnen so empfundenen Abschied von der sozialen Gerechtigkeit als Leitschnur seines Handelns flankiert würde. "Der Ansatz, zu sagen, wir dürfen ein soziales System, das auf Grund der Veränderungen in der Ökonomie in Schwierigkeiten geraten ist, nur dann reformieren, wenn wir in der Steuerpolitik anderen Gruppen etwas wegnehmen, ist falsch", beschied der Parteivorsitzende im "Spiegel" seine Kritiker: "Sie wollen an etwas festhalten, dem die reale Grundlage entzogen ist."
Das ist nicht die Sprache, mit der sich eine Linke, die glaubt, Parteitraditionen zu hüten, anfreunden könnte. So hat man sich die Befreiung aus der sechzehn Jahre dauernden Opposition nicht vorgestellt.
Argwohn, ob einer Richtungsentscheidung nicht doch schon ein Widerruf beigeheftet sei, ständiges Suchen nach dem Kleingedruckten seiner Beschlussvorgaben: Gerhard Schröders Verhalten verunsichert eigene Leute inzwischen fast genauso stark wie seine politischen Gegner. Es möglich zu halten, dass demnächst eben doch die Bundeswehr im Irak helfen könnte, ist keine Polemik, sondern eine nüchterne Einschätzung des Denkbaren. Man ist bei der Linken still erleichtert, wenn das nicht eintritt - aber weiß man dann, was stattdessen passieren könnte? Weiß man überhaupt etwas über diesen Mann, der so überzeugend auftreten und so genussvoll seinen gerade aktuellen Politikentwurf vortragen kann, dass es zwei Schröders geben muss - den begütigenden Redner, und den, der unbewegt seiner eigenen Rede lauscht? Wo ist Schröder? Und wer ist der echte?
Fragen über Fragen. Entnervt gibt nun die in sich auch noch gespaltenen Linke auf: Wir können nicht mehr, wir wollen nicht mehr. Gerhard Schröder hat gewonnen, und das mittragen zu müssen ist für die Traditionalisten genauso eine Niederlage wie der Machtverlust der SPD überhaupt. Indem sie sie hervorholen, strecken sie die Waffen. Wie im Kino, wo jemand, der halblaut ausspricht, man werde gleich aufstehen, die Hoffnung fahrengelassen hat, aber ahnt, dass nur wenige seinem Beispiel folgen würden.
Irgendwann wird Gerhard Schröder dann vielleicht sagen (oder andere über ihn), es sei alles von Anfang an angelegt gewesen. Von Riester über das Kosovo, vom Asylrecht bis zum Irak, von der Gesundheitsreform bis zur neuen Nähe zu Russland ziehe sich eine gerade, logische Linie. Deutschland modern und erwachsen gemacht zu haben hat er im Schweizer Fernsehen kürzlich als seine bereits fast erreichte Lebensleistung dargestellt. Er sagt ja gerne das ihm eigentlich Wichtige in Fernsehsendern mit geringer Publikumsreichweite.
Die ihn begreifen und nicht verdrängen wollen, werden es schon vernehmen. Und Benjamin Disraeli zitieren: "Sei klar und unmissverständlich, wenn du deine Gedanken verhehlen und den Gegner verwirren willst."
Artikel erschienen am 24. Apr 2003 © WELT.de 1995 - 2003 |