DIE ZEIT
18/2003
Gerechtigkeit
In jedem von uns steckt ein Sozi
Er pflegt seine Besitzstände und verweigert reflexhaft jede Veränderung. Die Sozialdemokraten in der SPD kann der Kanzler notfalls erpressen. Die Sozialdemokraten in uns muss er noch überzeugen. Schröder kann es schaffen
Von Elisabeth Niejahr und Bernd Ulrich
Joseph Beuys soll einmal gesagt haben: Die Grünen sind die größte Partei der Welt – aber die meisten Mitglieder sind Tiere. Bei den Roten verhält es sich anders: Die meisten Deutschen sind Sozialdemokraten – aber die wenigsten sind in der SPD.
In uns allen steckt ein Sozi, einer, der all die hektischen Veränderungen der letzten Zeit ablehnt, der in seligen BRD-Jahrzehnten erworbene Privilegien und Sicherheiten nicht preisgeben möchte. Schließlich kämpfen die Deutschen seit fast zwanzig Jahren gegen Deregulierung, Neoliberalismus und Sozialabbau. Und zwar mit großem Erfolg. Ob Helmut Kohl oder Gerhard Schröder – abgestraft wurde bei Wahlen jeder, der es unternahm, die gewohnte soziale oder steuerliche Ordnung zu stören. Die SPD ist nicht der obskure Verein, als der sie zurzeit, mit Vorliebe von rot-grünen Regierungsmitgliedern, dargestellt wird. Die SPD ist weniger die Partei der Schwachen als die Partei unserer Schwächen.
Dennoch sind die Bürger außerhalb der SPD schon weiter als die innerhalb. Die Flut von schlechten Daten in Wirtschaft, Haushalt und Bildung sowie die guten Argumente der Reformer aller Parteien haben die Mehrheit willig gemacht hinzunehmen, was der Kanzler Agenda 2010 nennt, ein Bündel unausweichlicher Sozialkürzungen. Ausgerechnet in dem Moment jedoch, da der Deutsche den Sozialdemokraten in sich bezähmt, tritt der Sozialdemokrat an sich aus der Kulisse – und erhebt Einspruch.
Nun wäre es leicht, sich über die SPD-Basis lustig zu machen. Über Triple-S etwa, wie Sigrid Skarpelis-Sperk von Spöttern aus dem Kanzlerumfeld genannt wird, jene unscheinbare Hinterbänklerin aus Bayern, die plötzlich den Kanzler bei seiner Reform-Agenda stört. Doch sind die zwölf Oppositionellen kaum der Grund für den Aufruhr an der Basis, sondern sein Ausdruck.
Alles oder nichts, friss oder stirb!
Was aber ist in die Basis gefahren, die doch gefälligst zufrieden sein sollte, solange ein Genosse regiert und damit das noch Schlimmere verhindert, also das, was die Schwarzen und die – Bebel-sei-bei-uns! – Gelben machen würden, wenn sie könnten? Liegt es an dem, was der Kanzler konkret vorhat, an der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe oder an der minimalen Lockerung des Kündigungsschutzes? Ja und nein. Die Agenda ist beides zugleich: noch hektisches Rumkürzen, schon der Anfang von etwas Neuem.
Eigentlich hätten die Genossen auch diese Kröten noch schlucken können, und genau das hatten ihre Anführer ja auch erwartet. Aber dann verband sich mit einem Mal die Agenda 2010 nicht mit jenen Fragen, die der Kanzler gern stellt – er oder ich, alles oder nichts, friss oder stirb –, sondern mit viel gefährlicheren: Was ist an unserer Politik noch sozialdemokratisch? Die Sinnlücke tritt offen zutage. Und dahinter steht die Frage, die alle angeht: Was ist heute soziale Gerechtigkeit?
Nähern wir uns also der SPD-Seele, lesen wir ein internes Papier. Das von Michael Müller, Linker, Mittfünfziger, stellvertretender Fraktionschef, klug, fleißig und sympathisch, ein Genosse im besten Sinne. Er hat eine elfseitige Papierbrücke gebaut zwischen Triple-S und Gerhard S. Darin nimmt Müller von der Agenda 2010 einiges zurück, weniges. Zwischen den Zeilen aber verrät er dabei vieles über den großen Frust der SPD. Ein typischer Satz aus seinem Skript: „Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem beruht wesentlich auf einer Struktur, die sehr stark technologisch begründet ist.“ Was bedeutet dieser Satz? Er bedeutet, dass unsere Wirtschaft auf Technik beruht, eine Banalität. Warum sagt Müller ihn dann, warum so? Er erinnert daran, dass es in der SPD mal eine tolle Zeit gab, in der man nächtelang theoretisch die Gesellschaft verändert hat. Diese Debatten laufen jetzt nach, leer, nostalgisch.
Wegen eben dieser Theoriedebatten weigert sich Gerhard Schröder, für seine Politik überhaupt eine Erklärung zu liefern. Er kennt Müller seit Juso-Tagen, gehörte aber schon damals nicht zu den Theorie-Typen. Anders als Müller sei er immer ein „bekennender Klappentext-Leser“ gewesen, behauptet Schröder kokett. Als SPD-Vorsitzender ließ er die Partei geistig aushungern. Zunächst installierte er Franz Müntefering als Parteigeneral, der zwar den sozialdemokratischen Gefühlshaushalt ansprach, aber alle Theorie für grau erklärte. Lieber elf Worte als elf Seiten. Dann überließ der SPD-Chef auch noch dem Anti-Visionär Scharping die Programmarbeit, die Parteitage wurden derweil zu Stundenereignissen.
Es ist schon fast ein Ritual: Schröders Mitarbeiter schreiben Sinn- und Visionspassagen in die Kanzlerreden – er streicht sie wieder raus: Das will ich nicht, das bin ich nicht. Wegen beidem, der mürben Gestrigkeit von Müllers Sprache und Schröders sprachlos autoritärem Pragmatismus, leidet die SPD seit Jahren an visionärem Unterzucker. Weil dem Neuen kein Sinn gegeben wird, zieht sich die Partei mehr und mehr auf das Alte zurück, auf die Abwehr von Sozialabbau. Dazu schreibt Müller: Der Sozialabbau, „diese konservative Sichtweise, ist vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen ein gefährlicher Irrweg. Er führt zu Spaltungen und Krisen und damit zu einer Gefährdung von Demokratie und Freiheit.“ Für Müller ist der Sozialstaat ein antifaschistischer Schutzwall. „Historische Erfahrungen“, „Gefährdung der Demokratie“ – das soll Weimar heraufbeschwören. Wer den Wohlfahrtsstaat so sieht und nicht als Umverteilungsarrangement einer reichen Gesellschaft, der kann sich bei jedem Abbau nur elend fühlen.
Zudem betreibt die SPD mit der Agenda 2010 ausgerechnet die Politik, gegen die sie sich in ihrem Wahlprogramm des Jahres 2002 doch gerade noch ausgesprochen hat. Ihr Sozialpopulismus von gestern wandelt sich zur Reformverweigerung von heute. Nun soll sie jene Härten mitmachen, gegen die viele Sozialdemokraten unter Kohl lautstark demonstriert haben: Krankengeld, Kündigungsschutz. Viele aus der SPD-Fraktion erinnern sich noch genau an die Demos auf der Bonner Hofgartenwiese, kurz bevor die Kohl-Regierung fiel; fast alle waren dabei.
Das schale Gefühl steigert sich zur Wut, wenn dann noch die Versprechungen des Kanzlers regelmäßig nicht gehalten werden. Schröder tröstet Genossen und Bürger immer damit, dass dieses jetzt noch gemacht werden müsse, aber dann, dann würde es bald besser. Die Erfahrungen sind anders: Nichts wird besser, der Sozialabbau geht weiter, die Abgaben steigen, die Arbeitslosenzahl nähert sich den fünf Millionen. Der Kanzler hat keine Vision, seine Genossen schon: die Horrorvision, dass es immer so weitergeht.
Was ist heute sozialdemokratische Politik? Christdemokratische mit schlechtem Gewissen? Mittlerweile ist die Lage so bedrohlich, dass die Probleme und nicht die Parteien die Politik machen. Nur bekommt das der SPD schlecht. Dennoch dürfte der Kanzler seinen Machtkampf auf dem Sonderparteitag am 1. Juni gewinnen. Zweifelhaft ist indes, ob er sich von diesem Sieg noch einmal erholt. Dafür ist zu viel Erpressung im Spiel, dafür geht es der Partei moralisch zu schlecht und dafür muss er noch zu viele weitere Schmerzensprogramme auflegen.
Eine SPD für die Starken
Dass es die meisten Genossen als unsozialdemokratisch empfinden, wenn mehr gefordert als gefördert wird, weil es keine Jobs gibt, ist verständlich. Darin liegt die Crux des Umbaus und des Sparens in der Krise: Es gibt zunächst keine materielle Kompensation für erlittene Verluste. Der einzige Zugewinn, den das Deregulieren sofort bringen kann, wäre Freiheit. Die jedoch empfinden nur wenige Sozialdemokraten sehr stark. Das war bei der Deutschen Einheit so, und das ist bei der Entriegelung des Arbeitsmarktes nicht anders. Willy Brandt sprach oft von der Freiheit, mit einer Intensität, die viele Sozialdemokraten verstörte. Selbst der Kanzler ließ 1999 bei seinem bisher einzigen Anfall von Deutungswut in das Schröder-Blair-Papier hineinschreiben, wie schön Freiheit sei – und Marktwirtschaft. Das wurde damals wie eine Cruise Missile in die SPD gejagt, verpuffte aber nach dem ersten Schrecken.
Superminister Wolfgang Clement hat kürzlich ein Experiment gewagt und bei einem Auftritt vor der SPD-Fraktion die beiden Worte „Flexibilität“ und „Gerechtigkeit“ in einem Atemzug genannt. Flexibilisierung bedeute „mehr Chancen auf persönliche Entfaltung“, also Freiheit. Das sei gerecht. Da wurde es in der Fraktion still. Doch wenn Clement eine freiere und anders gerechte SPD im Kopf hat – er kümmert sich kaum darum, dass sie auch in die Köpfe der Genossen kommt. Man nennt ihn einen Reformobristen, der wenig erklärt. Immerhin leidet er kaum unter seiner Reformpolitik.
Die Gewissensbisse der Partei hingegen sind unübersehbar beim Plan, die Laufzeit des Arbeitslosengeldes zu verkürzen. Die amtliche Begründung lautet, nur so könnten die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Der sozialdemokratischere Grund müsste so lauten: Zu lange staatliche Alimentierung behebt eine soziale Not nicht mehr, sie verewigt sie. Es ist eine Frage der Menschlichkeit zu helfen, aber eine des Respekts, etwas zu verlangen. Dieser Respekt spielte bei der Hartz-Kommission noch eine Rolle, in der Gefühlswelt der SPD dagegen kaum.
Mehr Freiheit wagen und mehr Respekt vor dem Starken in jedem Schwachen, das wären also erste Antworten auf die Frage danach, was heute sozialdemokratisch sein könnte. Die größte Änderung jedoch läge im Kerngebiet der sozialdemokratischen Seelenlandschaft: bei der sozialen Gerechtigkeit.
Im Grunde braucht die SPD eine neue Vorstellung davon, wer heutzutage Solidarität verdient. Nicht dass der alte Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit geradewegs zum Nebenwiderspruch geworden wäre. Aber andere, nicht minder bedeutsame Gerechtigkeitsfragen sind hinzugekommen – der Gegensatz zwischen Alten und Jungen, Familien und Kinderlosen, Einwanderern und Einheimischen, Jobbesitzern und Arbeitslosen. Allerdings können die Sozialdemokraten ihren Gerechtigkeitsbegriff nicht erweitern, ohne sich ihrer zentralen Lebenslüge zu stellen. Ihre 140 Jahre langen Kämpfe haben dazu geführt, dass die Massen heute wohlhabend und alimentiert sind. Die Diskriminierten von gestern sind die Privilegierten von heute. Darum stehen Sozialdemokraten bei vielen Verteilungskämpfen auf der Seite der Starken – also bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern gegen die Arbeitslosen, bei den Rentnern gegen die Beitragszahler. Etwa bei der Riesterschen Rentenreform. Am Ende kam ein Gesetz heraus, von dem keine Form der Altersvorsorge so stark gefördert wird wie die Betriebsrente. Davon profitieren vor allem Angestellte von Großunternehmen, vorzugsweise genau jene Facharbeiter mit Vollzeitjob auf Lebenszeit, die schon im Erwerbsalter gut versorgt sind.
Die SPD steht immer öfter auf der Seite der Starken. So droht die Partei Ethos zu verlieren, ohne von ihrem Pathos lassen zu können. Sozialdemokratische Politik schwankt heute zwischen verschiedenen Gerechtigkeiten. Die Entrechteten-Rhetorik verursacht Unwohlsein selbst bei Sozialdemokraten. Inzwischen fragen sich immer mehr Menschen, wie gerecht es ist, etwa den Kündigungsschutz, wie es die rot-grüne Regierung 1998 getan hat, zu verschärfen – und damit die Sicherheit der Jobbesitzer zu erhöhen, für die Arbeit Suchenden aber die Rückkehrchancen zu verringern. Wäre es nicht sozialer, den Arbeitsplatzbesitzern etwas mehr Unsicherheit zuzumuten, um im Gegenzug für mehr Gleichheit beim Zugang zur Arbeit zu sorgen? Wie in der Agenda 2010.
Die SPD sagt ja und meint nein, sie beschließt erst ein Hartz-Konzept, mit dem der Kündigungsschutz bei der Beschäftigung von Arbeitslosen ausgehebelt wird, spricht sich dann aber im Wahlkampf gegen Änderungen des Kündigungsschutzes aus, beruft einen neuen Wirtschaftsminister, der wiederum eine Lockerung ankündigt, und macht dann so viel Rabbatz deswegen, dass nunmehr bloß eine mikroskopisch kleine Veränderung kommt. So dementiert man sich selbst.
Der Kündigungsschutz ist ein gutes Beispiel für das schräge Gerechtigkeitsverständnis der SPD. Natürlich dient er dazu, den Arbeitnehmer vor der Willkür des Chefs zu schützen. Aber er schützt eben auch den faulen Kollegen vor dem fleißigen; denjenigen, der Arbeit zwar besitzt, aber nicht viel arbeiten will, vor dem Arbeitslosen, der möchte, aber nicht darf. Unser extremes Kündigungsrecht und die entsprechende Rechtsprechung haben also eine sozial gerechte und zwei sozial ungerechte Folgen. Kein Grund für einen Sozialdemokraten, den Kündigungsschutz abzuschaffen, aber dafür, ihn gründlich zu überarbeiten allemal.
Die SPD, und das verschärft noch ihren sozialen Widerstand gegen die Agenda 2010, ist sich ihrer Politik für die Starken schon allzu bewusst. Sie weiß, dass sie im Namen der je Schwächsten die Privilegien von Millionen bedient – und ist dennoch unfähig, ihr Gefühl für Gerechtigkeit zu verändern, unfähig, sich in sozialen Konflikten auf die Seite der Schwächeren zu stellen, derer, die aus den überteuerten Sozialsystemen herausfallen, und auf die Seite der Jungen, der Arbeitslosen, der Eltern. So überlässt sie das Sozialgeschäft den etablierten Sozialpolitikern, die gern Solidarität und Solidarsysteme verwechseln und für gerecht halten, was den traditionellen bismarckschen Versicherungen nützt.
Wenn in jedem Deutschen ein Sozi steckt, dann stecken in jedem Sozialpolitiker, Sozialrichter, Sozialkundelehrer und Sozialbürokraten zwei. Darum muss der Kanzler seine SPD überzeugen, weil in der Sozialpolitik viele kleine Sozialdemokraten an vielen kleinen Stellschrauben mitdrehen: Ministerialbeamte bei Referentenentwürfen, Parlamentarier beim Umformulieren von Gesetzestexten, Arbeitsrichter bei der Gesetzesinterpretation und -anwendung. Solange ein Großteil der Partei nicht überzeugt ist, kann der Kanzler Reformen beschließen, so viel er mag – und wird die Ergebnisse am Ende doch nicht mehr erkennen. Bisher bewirken seine Reformen darum operativ zu wenig und psychologisch fast nichts.
Normalerweise würden Schröder solche Debatten wenig interessieren. Nun allerdings ist aus der Sinnfrage eine Machtfrage geworden, und deshalb muss er die fünf Wochen bis zum 1. Juni nutzen, um die Sinnlücke zu schließen. Die Sozialdemokraten in der SPD kann er notfalls erpressen, die Sozialdemokraten in uns nicht. Das Überraschendste an all dem scheint, wie nah die SPD ihrer eigenen Zukunft bereits gerückt ist. Mehr Freiheitslust, mehr Respekt und eine andere soziale Gerechtigkeit – all das findet sich in den Reformen von Hartz bis Agenda 2010. Wenn man danach sucht. Doch tritt niemand in der Partei an, um es zusammenzufügen. Der repressive Pragmatiker Schröder nicht, der Reformcholeriker Clement auch noch nicht.
Es geht jetzt für die SPD vorwärts, oder sie fällt zurück, dahin, wo die Gewerkschaften schon sind. Ins Gestern. Einem klugen, 40-jährigen Genossen, der die neue SPD im Kopf hat, fällt nur einer ein, der das Morgen verkörpern könnte: Erhard Eppler (76). So also ist es um die Jüngeren in der SPD bestellt. Wenn es ernst wird und die 68er in der Abendröte ihrer Biografien leuchten, dann hoffen sie auf einen noch älteren.
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