Die Angst vor Stagflation geht um in der Welt. Was die Doppelbelastung aus Inflation und Stillstand im Depot anrichtet – und wie Anleger sich darauf einstellen können.
von Günter Heismann
Es war das doppelte Übel aus Stagnation und Inflation, das in den 70er-Jahren das deutsche Nachkriegswirtschaftswunder endgültig beendete, die Gewinne der Unternehmen implodieren ließ und die Börsenkurse auf Talfahrt schickte.
Das Gespenst aus den 70ern ist wieder da. Es schlug am Donnerstag und Freitag Börsianer weltweit in die Flucht. Der drastische Anstieg des Ölpreises um fünf auf 140 Dollar signalisierte erneut Inflationsgefahr und Leitzinserhöhungen durch die Zentralbanken. Gleichzeitig kamen schlechte Nachrichten aus Automobil- und Finanzsektor, die als Vorboten eines konjunkturrelln Stillstands gedeutet wurden.
Zinserhöhungen vor dem Hintergrund einer massiv angeschlagenen Konjunktur? Dieses Szenario trägt den Namen Stagflation und lässt nichts Gutes für die Unternehmensgewinne – und die Börsenkurse – erwarten. Der Dow Jones sackte folgerichtig am Donnerstag nach einem Minus von 3,03 Prozent auf 11 453 Punkte – der niedrigsten Stand seit knapp zwei Jahren. Am Freitag folgten die asiatischen Indizes mit Verlusten zwischen 1,6 Prozent (Hang Seng) und sechs Prozent (Shenzhen). Der DAX verlor am Donnerstag 2,4 Prozent und bewegte sich am Freitagvormittag schnell wieder im negativen Terrain. Die Flucht vor dem Stagflationsgespenst trieb viel Börsianer in den sicheren Hafen der Staatsanleihen.
Tatsächlich hätte eine Kombination aus Stillstand beim Wirtschaftswachstum und echter Inflation mit einer echten Lohnpreisspirale wie in den 70ern auch heute üble Folgen für zukünftige Unternehmensgewinne und deren Bewertung an den Börsen. Im besten Fall müssten sich Börsianer auf eine lange Seitwärtsstrecke bei den Kursverläufen der wichtigsten Indizes einstellen.
Wie nah sind also die 70er? "Uns droht zwar keine schwere Stagflation wie in den 70er-Jahren", sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt bei der Commerzbank in Frankfurt. "Doch einige Entwicklungen deuten in diese Richtung." Auch Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, sieht für 2009 die Gefahr einer Stagflation. Investoren sollten sich darauf einrichten.
Die Warnsignale sind unverkennbar: "Das Wirtschaftswachstum, das 2007 in Deutschland 2,5 Prozent betragen hatte, wird dieses Jahr leicht auf 2,4 Prozent sinken", sagt Krämer voraus. "Für 2009 erwarten wir aber nur noch rund ein Prozent Wachstum." Obendrein treiben die steigenden Preise für Öl und Lebensmittel die Preisteigerungsraten derzeit auf mehr als drei Prozent hoch.
Erinnerungen an die Vergangenheit werden wach. Vor 35 Jahren gab es eine Explosion der Ölpreise, wie wir sie auch heute erleben. 1973 hatte die Opec (Organisation Erdöl exportierender Länder) das Ölangebot künstlich verknappt. 1973/74 verschärfte der Ölpreisschock die bereits grassierende Inflation. Zum Ausgleich der Kaufkraftverluste setzten die Gewerkschaften 1973 und 1974 Lohnerhöhungen von je zwölf Prozent durch.
Die damit in Gang gesetzte unheilvolle Lohn-Preis-Spirale heizte die Inflation erst richtig an. Zugleich sackte das Wachstum gegen null; die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe.
Die amerikanische Zentralbank versuchte mit Niedrigzinsen die Konjunktur anzukurbeln – und hievte so die Inflation auf bis zu 15 Prozent. Erschrocken setzte die Fed schließlich die Leitzinsen kräftig herauf, wodurch sie die Inflation in den Griff bekam – aber die Wirtschaft erst einmal noch tiefer in den Abschwung trieb. Die Gewinne der Unternehmen brachen ein. Inzwischen haben Politiker und Notenbanken dazugelernt. Die Europäische Zentralbank (EZB) achtet ebenso wie die Bundesbank strikt auf Geldwertstabilität. "Die Inflation ist daher heute schleichend und nicht so aggressiv wie in den 70er-Jahren", stellt Volkswirt Krämer fest.
Die aktuelle Gefahr liegt weniger darin, dass knappe Rohstoffe teurer werden. Das ist angesichts des anhaltend rasanten Wachstums in den Schwellenländern zu erwarten. Doch die Situation ist vertrackt. "Je länger die Inflation hoch bleibt, desto stärker verfestigt sich bei Konsumenten und Unternehmen die Erwartung, dass die Preissteigerungen anhalten", sagt Volkswirt Krämer.
Wer jedoch mit hoher Inflation rechnet, der versucht vorsorglich, höhere Löhne beziehungsweise Preise durchzusetzen. Laut dem Forschungsinstitut WSI erkämpften die Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 2008 Tariferhöhungen von rund 4,6 Prozent. "Zweitrundeneffekte" nennen Ökonomen Lohn- und Preissteigerungen, die durch Preisschocks wie beim Öl ausgelöst werden. "Wir müssen aufpassen, dass solche Zweitrundeneffekte nicht in die Breite gehen", warnt Jürgen Stark, Chefökonom der EZB. "Wir sehen seit Ende 2007 in mehreren Regionen des Euroraums deutliche Steigerungen der Löhne, obwohl sich dort das Wirtschaftswachstum abgeschwächt hat."
Bisher ist aber in Europa noch nicht allzu viel von der befürchteten Stagflation zu sehen. In den Schwellenländern hat der Kampf der Zentralbanken gegen hohe Inflationsraten gerade begonnen – bei bislang insgesamt immer noch hohen realen Wachstumsraten.
Anders schaut es in den USA aus. "Wir werden in den kommenden Monaten erleben, dass die Wirtschaft stagniert oder schrumpft und die Inflation bei vier bis fünf Prozent liegt", prophezeit Nationalökonom Harald Uhlig von der University of Chicago. Grund genug für institutionelle und private Anleger, das Depot zu überprüfen.
Wie sieht ein Stagflationsdepot aus? Inflationserwartung, gepaart mit der Erwartung fehlender Gewinnzuwächse, wirkt wie eine doppelte Abzinsung auf künftig zu erwartende Kapitalerträge. Dies schlägt vor allem bei langfristigen Anleihen ins Kontor. Überdies leiden die Bonds nach wie vor unter der Finanzmarktkrise. "Die Banken bauen weiter ihre Bestände ab. Das müssen die Rentenmärkte erst einmal verdauen", sagt Reiner Back, Rentenchef der Meag, des Vermögensverwalters der Münchener-Rück-Gruppe.
Seit einiger Zeit werden sogenannte "inflation-linked bonds" angeboten, Anleihen mit einem eingebauten Inflationsschutz. Doch solche Rentenpapiere sind derzeit nur für Pessimisten attraktiv. "Der Markt preist in diese Anleihen derzeit bereits eine durchschnittliche jährliche Inflationsrate von 2,6 Prozent für die nächsten zehn Jahre ein", sagt Back. "Die Bundesbank und nachfolgend die EZB haben zumindest in der Vergangenheit bewiesen, dass sie die Inflation langfristig bei etwa zwei Prozent halten können." Inflationsgeschützte Anleihen sollten mithin nur Investoren kaufen, die das Vertrauen in die EZB verloren haben.
Auf der sicheren Seite wähnen sich die Anleger, wenn sie in der Inflation in handfeste Dinge investieren, sprich: in Häuser und Grundstücke. Doch in den USA, in Großbritannien und Spanien fallen die Häuserpreise. "Lediglich in Deutschland könnten Immobilien in der Inflation wertstabil bleiben, da die Preise im internationalen Vergleich niedrig sind", sagt Back.
Auf den Aktienmärkten bewirkte die Stagflation in den 70ern eine lang anhaltende Seitwärtsbewegung. Ist jetzt ebenfalls mit einer jahrelangen Börsenflaute zu rechnen? Bei Aktien werden in einer Stagflation die künftig erwarteten Erträge durch geringe Wachstumshoffnung und hohe Inflationserwartungen entwertet. Während des zweiten Ölpreisschocks von 1979/80 wurden die Aktien, die im amerikanischen Börsenindex Standard & Poor’s enthalten waren, mit einem Kurs/Gewinn-Verhältnis (KGV) von durchschnittlich 7,5 bewertet. In preisstabilen Zeiten sind KGV-Werte von 15 bis 18 üblich.
Freilich leiden nicht alle Aktien gleichermaßen. Experten der Pariser Großbank BNP Paribas haben ermittelt, wie die einzelnen Sektoren sich während der Stagflation der 70er-Jahre entwickelten. Am besten schnitten damals Öl und Gas ab, jene Branchen, die heute die Inflation antreiben. Auch Tabak, Versicherungen, Grundstoffe und Industriegüter entwickeln sich in einer Stagflation überdurchschnittlich gut. "Ganz hinten liegen die Aktien von Autoherstellern, Fluglinien, Hotelketten und Einzelhändlern", resümiert Meag-Spezialist Back.
Pricing Power ist die Erklärung. Unternehmen, deren Geschäftsfeld es etwa in regulierten Märkten erlaubt, Preissteigerungen auch in der Stagflation am Markt durchzusetzen, sind erste Wahl bei einer Depotabsicherung. Gegen die Wachstumsschwäche im Stagnationsszenario hilft die Auswahl von Titeln, deren Geschäftsmodell relativ unabhängig von der Konjunktur ist. Pharma und Versorger sind hier die üblichen Verdächtigen.
Ein weiterer Weg, den Auswirkungen eventueller Wachstumsdellen in Europa oder den USA zu entgehen, ist, auf Unternehmen zu setzen, die einen Großteil des Geschäfts in den Regionen machen, die weiter stark wachsen werden. Anleger sollten deshalb auch auf die geografischen Schwerpunkte der Unternehmen achten.
"Es werden vor allem Aktien leiden, die ihre größten Umsätze in den USA und Europa erwirtschaften", prophezeit Analyst Philipp Bärtschi vom Schweizer Bankhaus Sarasin. "Am besten geschützt vor der erwarteten wirtschaftlichen Abschwächung in den OECD-Ländern scheinen weiterhin Aktien, die vom relativ robusten Wachstum in den Schwellenländern profitieren."
Dort wird der Kampf gegen eine weltweite Stagflation mit entschieden. In China herrscht weiter Boom. Dafür drohen aber die Preissteigerungen aus dem Ruder zu laufen. "Andere Emerging Markets wie Indien, Südafrika und die Türkei stecken bereits tief in der Stagflation", stellen die Ökonomen der US-Investmentbank Morgan Stanley fest. Auf gutem Weg sehen sie hingegen Brasilien, Mexiko, Korea und Taiwan.
Die Globalisierung wird auch künftig ein wirksames Gegengewicht zur Stagflation in den Industrieländern bilden – in doppelter Hinsicht. Zum einen kommt das weltweite Wirtschaftswachstum auch künftig zu mindestens zwei Dritteln aus den Schwellenländern. Das eröffnet den Unternehmen aus Europa und den USA unverändert riesige Exportchancen. Zum anderen bleiben die meisten Emerging Markets weiterhin Niedriglohnländer – selbst wenn die Inflation sich dort beschleunigt und die Währungen tendenziell gegenüber Dollar und Euro aufwerten. Die Billigkonkurrenz beschränkt aber die Möglichkeiten der Arbeitnehmer in den Industriestaaten, höhere Löhne durchzusetzen.
"Die preisdämpfenden Effekte der Globalisierung haben zwar nachgelassen, ihre disziplinierende Wirkung hält aber an", resümiert Commerzbank-Ökonom Krämer.
Und ist in Sachen Stagflation und DAX optimistisch: "Nach einem weiteren Rückschlag in den nächsten Monaten könnte die Börse im Herbst wieder an die Aufwärtsbewegung vom Frühjahr anknüpfen."
Finanzen.net 29.06.2008 09:00 |