"Ich habe das Gefühl, dass die Israelis im Augenblick absolut dazu fähig sind, ein ganzes Dorf platt zu machen, weil sie in irgendeinem Keller Raketen vermuten – selbst, wenn es noch nicht alle Zivilisten verlassen haben."
Sahm hat zur Zeit echt Hochkonjunktur
„Der ganze Norden ist tot“ Das PZ-Interview mit Ulrich Sahm, in Jerusalem lebender Journalist, zur Krise in Nahost
Israel fliegt Luftangriffe auf den Libanon, Hisbollah-Raketen schlagen tief im Landesinneren von Israel ein. Wie Menschen und Medien in Israel darauf reagieren, darüber sprach PZ-Redakteurin Ulrike Bäuerlein mit dem in Jerusalem lebenden Nahost-Korrespondenten Ulrich Sahm.
Pforzheimer Zeitung: Herr Sahm, herrscht Krieg in Israel?
Ulrich Sahm: Ja. Es ist ein Krieg. Ich fühle mich in Zeiten zurückversetzt wie während des Golf-Krieges oder auch während des Yom-Kippur-Krieges 1973. Die Stimmung in Israel ist ganz tief am Boden.
PZ: Womit wird gerechnet?
Sahm: Das israelische Militär wird wohl nicht in den Libanon einmarschieren, außer vielleicht mit kleinen Kommandos. Aber es wird mit seiner Luftwaffe in absolut rücksichtsloser Weise alles zerbombt, was auch nur entfernt nach Hisbollah riecht. Ich habe das Gefühl, dass die Israelis im Augenblick absolut dazu fähig sind, ein ganzes Dorf platt zu machen, weil sie in irgendeinem Keller Raketen vermuten – selbst, wenn es noch nicht alle Zivilisten verlassen haben. Dazu gab es auch bemerkenswerte Mitteilungen des offiziellen Militärsprechers, zum Beispiel, dass Israel nicht mehr bereit ist, menschliche Schutzschilde der Hisbollah zu respektieren. Das heißt: Wenn sich die Hisbollah-Kämpfer hinter der Zivilbevölkerung verstecken, dann hat eben die Zivilbevölkerung Pech gehabt.
PZ: Wird dieses Vorgehen von der israelischen Öffentlichkeit gestützt?
Sahm: Ich habe überhaupt keine Kritik daran gehört, gar nicht. Im Gegenteil. Man redet hier in einer Art und Weise, wie ich es wirklich nicht gewöhnt bin, und es gibt eine drastische Wortwahl, die in Israel absolut unüblich ist. Dazu hat die Kombination der Hisbollah-Aktionen beigetragen: Die Entführung der Soldaten, der Beschuss des Nordens Israels und dann der Beschuss anderer Städte, die Drohung , Tel Aviv anzugreifen. So lange die Kanonen donnern, halten sich die Politiker von links bis rechts zurück, stehen hinter der Regierung und auch natürlich hinter der Armee. Auch in den Medien herrscht ein Unisono-Gesang, den man hier überhaupt nicht kennt. Denn eigentlich wird in Israel immer über alles diskutiert.
PZ: Wie reagieren die Menschen?
Sahm: Es gibt große Solidarität. Die Leute laden die Menschen aus dem Norden Israels ein, ihre Kinder ins Auto zu stecken und in Sicherheit zu bringen, bis sich der Sturm gelegt hat. Der ganze Norden ist tot, die Menschen fliehen oder sitzen in ihren Bunkern, die Straßen sind leer, die Läden geschlossen, die Wirtschaft gelähmt, es läuft nichts mehr ; das ist ein Zustand, der sich nicht lange aufrecht erhalten lässt.
PZ: Die Israelis sind das Leben mit der Gefahr ja gewohnt. Aber haben sie jetzt Angst?
Sahm: Ja. Mich rief gestern ein Freund an, der in Haifa lebt. Der glaubte zuerst, dass die israelische Luftwaffe eine Übung fliegt, und dann sah er aus dem Fenster und eine Rauchwolke aufsteigen. Es war eine Katjuscha-Rakete, die ganz in der Nähe seines Hauses eingeschlagen war; und er hat augenblicklich beschlossen, Frau und Kinder zu nehmen, Haifa zu verlassen und nach Jerusalem zu gehen.
PZ: Wie sicher ist Jerusalem?
Sahm: Bis nach Jerusalem reichen die Raketen – noch – nicht , man muss da sehr vorsichtig sein, weil die Israelis nicht genau wissen, welche Raketentypen die Hisbollah überhaupt besitzt. Aber heute morgen, vor einer Stunde, haben hier Polizisten einen jungen Palästinenser überprüft , der ihnen verdächtig vorkam, und sie entdeckten, dass er eine Tasche mit fünf Kilo Sprengstoff bei sich trug. Wenn das explodiert wäre, wäre hier die Hölle losgewesen. Das war 500 Meter von meiner Wohnung entfernt, an einer Stelle, wo ich normalerweise einmal am Tag vorbeifahre. Hätte auch mich oder meine Familie treffen können.
PZ: Gibt es die Empfindung, dass der Iran hinter den Raketenangriffen der Hisbollah steht?
Sahm: Erstaunlicherweise kaum. Was mir aber in den Medien auffällt: Es wird immer wieder erwähnt, dass doch eigentlich die Syrer die wahren Drahtzieher und Schuldigen seien. Es wird auch öffentlich von gemäßigten Politikern gefragt, warum Israel eigentlich den Libanon angreift, wo man doch eigentlich die Syrer angreifen müsste.
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