Ein Acquirer ist ein Zahlungsdienstleister, der bei Kreditkarten-Transaktionen zwischen die Kartenfirma auf der einen und den Einzelhändler auf der anderen Seite tritt. Das bedeutet konkret: Bezahlt ein Kunde per Kreditkarte, dann fließt das Geld von Visa oder Mastercard nicht direkt zum Händler, sondern geht zunächst einmal an den Acquirer. Erst mit zeitlichem Verzug leitet der das Geld dann an den Einzelhändler weiter.
Bilanziell gesehen hat dieses Geschäftsmodell folgende Implikationen: Beim Acquirer bilden sich Forderungen gegenüber den Kreditkartenfirmen und Verbindlichkeiten gegenüber den Händlern. Wird der Zahlungsfluss in Gang gebracht, verwandeln sich die Forderungen in Cash, das zunächst hineinrinnt in die Bücher des Acquirers (von den Kartenfirmen). Irgendwann aber rinnt es auch wieder hinaus (zum Händler) – womit sich nach den Forderungen auch die Verbindlichkeiten wieder auflösen.
Heißt: Das Geschäft generiert zunächst einmal mehr Verbindlichkeiten (gegenüber Händlern) als Forderungen (da die Kartenfirmen ja rasch überweisen). Die Differenz zwischen Verbindlichkeiten und Forderungen ist der Cash, den der Acquirer bereits von den Kreditkarten-Organisationen erhalten, aber noch nicht an den Händler weitergeleitet hat.
Mit anderen Worten: Acquirer benötigen in der Regel kein Working Capital, sondern sie haben es – und zwar im Überfluss. Sie müssten per Definition eigentlich Working Capital-negativ sein. Wirecard indes war dies nur bis 2011 und danach nie wieder.
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Ob Acquirer oder „ normales“ Unternehmen: Hohe Forderungen wecken bei Bilanzexperten gern mal Skepsis. Denn wenn ein Unternehmen eine üppige Forderungsposition aufweist, dann stellt sich irgendwann die Frage: Wie werthaltig sind diese Forderungen eigentlich? Falls sie nämlich werthaltig wären – müssten sie dann nicht irgendwann beglichen und also in Cash gewandelt werden?
Tatsächlich kam unter den ansonsten komplett unkritischen Sellside-Analysten in früheren Jahren ab und an mal die Frage hoch, ob Wirecard angesichts folgender Merkmale …
Cash-positives Geschäftsmodell immens hohe Forderungen ein Jahr für Jahr steil steigendes Ebit
… nicht eigentlich über mehr Geld in der Kasse verfügen müsste.
Es gab allerdings auch ein Argument, mit dem sich diese zarten Bedenken zerstreuen ließen: Allein zwischen 2011 und 2016 tätigte Wirecard 15 Übernahmen in 13 verschiedenen Ländern. Hier mal 30 Mio. Euro für die GFG Group in Neuseeland. Dort mal knapp 90 Mio. Euro für PT Aprisma in Indonesien. Das Ganze kulminierte schließlich 2015 in der Akquisition der indischen GI Retail für 340 Mio. Euro.
Wohlmeinende Betrachter deuteten das Ganze so: Die Forderungen wandeln sich tatsächlich in Cash – was man zu den Bilanzstichtagen aber nicht mehr unbedingt sieht, weil das Cash zu diesem Zeitpunkt schon wieder aus dem Unternehmen herausgeflossen ist. Nämlich um die Übernahmen zu begleichen.
Indes: War es wirklich so?
Wirecards Übernahmen jedenfalls provozierten immer wieder öffentliche Skepsis, das galt besonders für besagten 340-Mio.-Euro-Deal in Indien (siehe zum Beispiel die Artikel hier, hier, hier, hier, hier und hier). Man fragte sich: Warum zahlt Wirecard so viel Geld für ein relativ unbekanntes Unternehmen? Als Verdacht schwang mit: Floss bei den Übernahmen womöglich Geld in dunkle Kanäle?
Wirecard hat solche Mutmaßungen stets zurückgewiesen. Und tatsächlich konnte (so weit wir wissen) nie ein Fehlvergehen wirklich nachgewiesen werden. Vor dem Hintergrund der gestrigen Ereignisse (nochmal: laut Ernst & Young fehlt der Nachweis für 1,9 Mrd. Euro Cash …) muss die Frage nach den damaligen Übernahmen allerdings trotzdem erlaubt sein. Wobei man die Frage womöglich ein bisschen anders formulieren muss:
Nicht: Floss Geld in dunkle Kanäle?
Sondern: Wie viel Geld floss überhaupt?
Wurden die Akquisitionen möglicherweise größer dargestellt, als sie waren? Und dienten die Transaktionen womöglich dazu, einen Abfluss von Cash (und also auch: ein Vorhandensein von Cash) vorzuspielen, den es so gar nicht gab?
Da die für gestern geplante Bilanz-PK kurzfristig abgesagt wurde, konnten wir die Fragen dem Wirecard-Management nicht stellen. Wir wandten uns daher am Nachmittag an die Pressestelle, erhielten aber keine Antwort. Natürlich gehen wir weiterhin davon aus, dass bei den Übernahmen alles mit rechten Dingen zuging.... |