na ja, ich will mal nicht weiter provozieren, sondern mal auf #312 eingehen.
Zunächst mal, hat AL ja in einigen Dingen durchaus recht, beispielsweise dass es in der DDR ein gewissen kleinbürgerliches Milieu gab oder das es Ossis gibt, die die AFD tatsächlich wählen, weil sie denken es wäre eine soziale Alternative, so dumm das erscheinen mag. Aber "der Ausländer nimmt uns die Arbeit weg" ist halt nicht tot zu kriegen, erst recht wenn man (wie es AL in seiner Verteidigung von "Aufstehen" ja auch tut) von knappen Ressourcen ausgeht. Sind die bildungsarmen Schichten also entweder doch nicht so doof, oder sollte man vielleicht eher mal "Aufstehen" kritisch hinterfragen?
Aber erstmal zu dem, was mich an AL nicht nur beim Thema Ossis stört. Er pauschalisiert und selektiert! Und das ist immer schlecht, egal, ob das den Zugang zu Dingen ist, die seine kritische Haltung zu US-Märkten bestätigen (man sucht so immer nach Dingen, die die Meinung zur US-Konjunktur und US-Politik bestätigen) als auch was Ossis angeht, denen man bestimmte Denkmuster oder Verhaltensweisen zuschreibt, was man dann mit Dingen abgleicht, die man irgendwo liest. Ob AL mal mit Ossis gesprochen hat, weiß ich nicht. Ich bin Ossi und unterhalte mich daher auch logischerweise öfter mit jedweder Coleur in politischer und sozialer Hinsicht. Wenn AL also beispielsweise zurecht auf das Kleinbürgertum hinweist, find ich es erstaunlich, dass er darauf dann den Spruch "Wer wirklich arbeiten will, findet auch Arbeit" zurückführt. Denn den hab ich bisher nur von Wessis gehört, beispielsweise Herbert Grönemeyer in seinen Liedern aus den 80er Jahren, wo er sicher nicht über die DDR und den Ansichten der dortigen Bürger gesungen hat. Die DDR-Bürger hatten ja generell Arbeit, aber ihnen war immer bewusst, worauf das zurückzuführen ist, genau wie ihnen nach der Wende schnell bewusst wurde, dass eben nicht jeder, der hart arbeitet im Kapitalismus eine Arbeit findet. Daher ist der Spruch bei Ossis ganz gewiss nicht verbreitet, den AL ihnen zuschreibt. Das Kleinbürgertum erkennt man bei Ossis dann schon eher an der Frage der Ausländerfeindlichkeit. Interessanterweise zieht sich das durch alle sozialen Klassen. In meinen Gesprächen mit anderen Ossis stelle ich immer wieder fest, dass gerade die eher sozial begünstigten (im Gegensatz zu den 90er Jahren) auf Ausländer und insbesondere auf Muslime schimpfen. Heute ist die rechte Bewegung ja eher weniger eine, die sich aus sozialer Ausgrenzung speist, sondern vielmehr über kulturelle Unterschiede und dem Ablehnen des "Systems" (Politiker, Medien), was die eigene Meinung aufgrund der Ablehnung durch den Gegner vertieft (Polarisierung). Klar gibt es auch immernoch Leute, die an der Tafel anstehen und meinen, dass sie wenig haben, während die Ausländer angeblich alles geschenkt bekommen. Aber da könnte "Aufstehen" ja ansetzen und den Kampf reich gegen arm (oben vs unten) statt Deutscher vs Ausländer (zur Seite blicken) propagieren. Stattdessen fischt Aufstehen, auch wenn differenzierter, im Gewässer der Rechtspopulisten, und das halte ich für arg gefährlich. Aber viel mehr macht mir Sorge, dass eher die gut situierten Ossis (meist Leute im Alter zwischen 40 und 70) mit guten Jobs und vernünftigen Renten auf die Flüchtlinge schimpfen. Und das hat glaub ich wenig mit Verteilungsängsten zu tun, sondern mit diversen Vorurteilen gegenüber Südländern im allgemeinen, egal ob das Religion, Sicherheitsfragen, kulturellen Fragen betrifft. Es vergeht kein Familientreffen oder Geschäftsessen etc., wo nicht irgendwer meint, wir holen uns den Terror ins Land, Islam hat hier nix zu suchen und außerdem könne sich Deutschland das nicht leisten. Wenn man dann mal nachfragt, ob sie selbst schon schlechte Erlebnisse mit Syrern hatten oder sie etwas an ihrem Geldbeutel bemerken, kommt zwar keine Antwort, eben weil sie finanziell/sozial gut gestellt sind und kaum mal Ausländer zu Gesicht bekommen, aber dann verweist man eben auf Stadtviertel in Berlin wo Sodom und Gomorra herrscht und außerdem sich alles finanziell ja erst in einigen Jahren negativ bemerkbar machen würde. Die Frage ist, wieso das im Osten ausgeprägter ist. Ich glaub da darf man nicht pauschalisieren. Es hat einerseits sicher mit dem Umgang mit Ausländern zu DDR-Zeiten zu tun. Die lebten eher für sich am Stadtrand und waren von vornherein als Vertragsarbeiter deklariert, und die russischen Soldaten wurden zwar als arme Schweine aber letztlich als Besatzer wahrgenommen, jedenfalls von vielen Bürgern. Andererseits hat es aber sicher auch mit der Zeit nach der Wende zu tun. Das Thema darf man nicht unterschätzen. Solche extremen sozialen Umbrüche sind abgesehen von Kriegszeiten wohl kaum ein zweites Mal in Europa zu finden. Das hat jeder von uns Ossis mitgemacht. In meiner Familie führte es zu Selbstmord und tödlichen Krankheiten. In anderen Familien führte es zu Wut und manchmal offensichtlich auch Hass, der sich dann gegen den vermeintlich leichten Gegner Ausländer richtete. Und viele derjenigen, die damals in diese Hassspirale kamen, sind eben genau die heute 40-70jährigen, die ich vorhin ansprach. Obwohl sie es heute sozial halbwegs geschafft haben, haben sie ihre Vorurteile gegenüber Ausländern und auch ihre Wut auf Politiker und das parlamentarische System nicht ablegen können, das ihnen damals nicht helfen konnte und (wenn man es unter Lobby-Aspekten betrachtet)auch nicht helfen wollte. Selbst ich, der all diese Denkweisen ablehnt, kann mich da ja zumindest mal reinversetzen. Als ich politisch aktiv wurde (als 13-14jähriger zur Wendezeit 1989), da herrschte Aufbruchstimmung, da hat man sich die Sitzungen der Volkskammer und es Runden Tisch angeschaut. Man hatte das Gefühl der Mitbestimmung, der kulturellen und der Reisefreiheit, und auch der politischen Mitbestimmung. Und dann passierte innerhalb von 2-3 Jahren so viel, was all das zunichte machte, egal ob die langweiligen Bundestagssitzungen mit Fraktionszwang, wo PDS-Vertreter abgekanzelt wurden, egal ob die hohe Arbeitslosigkeit, die faktisch jede Familie betraf, egal ob (für mich als Linken zumindest) die Äußerungen von Vertriebenenverbänden, die ernsthaft noch über die Rückgabe der Ostgebiete diskutierten, oder für mich als Ossi manchmal völlig unverständliche Dinge in Fragen von Frauenrechten (Artikel 218, der damals stark diskutiert wurde) oder Verbote bestimmter Musik, etc. Da wurden damals noch Dinge auf den Index gesetzt, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Ich will mit all dem nur sagen, so toll und verheißungsvoll, wie die politische Wende auf uns Ossis wirken sollte wie wir es anfangs dachten, war es leider bei weitem nicht. Und manch ein Ossi wird da nur ernüchtert gewesen sein (wie ich), manch ein Ossi hat sich dann dem Rechtsradikalismus zugewendet, auch weil natürlich Wessis mit ihren Führungskräften das (genau wie heute wo die meisten AFD-Spitzen Wessis sind) damals im Osten Propaganda machten und das mit sozialen Problemen und der Flüchtlingskrise durch den Balkankrieg und Russlanddeutsche zusammen fiel. Dazu die Vertragsarbeiter, die noch vorhanden waren. Da gab es viel, an dem man sich abreagieren konnte. Ich will das gar nicht entschuldigen, aber manch Wessi sollte sich mal die Umstände betrachten, die zu all dem geführt haben. Ich bezweifel nicht, dass eine Ursache auch im Umgang in der DDR mit Ausländern als auch dem übergestülpten Antifaschismus lag, der nicht wirklich gelebt wurde. Aber die frühen 90er Jahre sollte man nicht vergessen, zumal damals auch im Westen Reps und DVU in den Parlamenten saßen, und Spitzenpolitiker der Union teils erbärmliche, ausländerfeindliche Aussagen machten und in der Konsequenz die Asylgesetze verschärft wurden. Viele Probleme von heute, was sich nicht integrierte fühlende Ausländer betrifft, haben auch damit zu tun, wie bundesdeutsche Politik gemacht wurde, und zwar nicht erst in den 90er Jahren. Wieso zeigen denn viele Ossis (ob zurecht oder zu unrecht) mit dem Finger auf Parallelgesellschaften in westdeutschen Innenstädten? Da hat doch die bundesdeutsche Politik der 70-90er Jahre total versagt. Das die Türken sich hier nicht als Deutsche fühlen konnten, lag auch daran, dass die Deutschen und deren Politiker das schlichtweg auch nicht wollten und auch nicht förderten. Das sieht man doch noch heute, wenn man mit jungen Deutschtürken spricht. Die fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse. Und das nicht zu unrecht. Und dann wundert man sich, wenn manche von ihnen Erdogan wählen und unter sich bleiben, was wir dann als Parallelgesellschaft wahrnehmen. ----------- the harder we fight the higher the wall |